Kristall der Träume
wieder hatte er damit geendet, dass Laliaris Clan vertrieben wurde. Diesmal nach Osten.
Was als gewaltiger Exodus von mehreren hundert Menschen begonnen hatte, war nun auf eine Gruppe von achtundneunzig geschrumpft. Die Frauen, Kinder und Alten gingen vorneweg, während die Männer den Schluss bildeten, um sie vor den Verfolgern zu beschützen. Nach einer Weile hatten sie ein weitläufiges Sumpfland erreicht und sich mühsam durch das Schilf gearbeitet. Die Frauen waren schon auf der anderen Seite angekommen und als sie sich nach den Männern umwandten, sahen sie, wie auf einmal eine gewaltige Wasserwand auf sie zuraste, eine Sturzflut, die sich, aus dem Nichts kommend, über das sumpfige Gelände ergoss und die ahnungslosen Männer mitriss.
Auf sicherem Boden stehend, hatten die Frauen starr vor Schreck mit ansehen müssen, wie die Jäger sofort in der tosenden Flut untergingen. Sie sahen Arme und Beine wie Treibgut herumwirbeln, hörten die erstickten Schreie der Männer, die um ihr Leben kämpften. Kurze Zeit später hatte sich die Flut wieder beruhigt, und die Frauen, die nicht wissen konnten, dass diese sumpfige Ebene den Launen von Nipp- und Springfluten unterworfen war, die entweder Sumpfland oder Wasserwüsten hinterließen, glaubten, am Ufer eines neu entstandenen Meeres zu stehen.
Noch unter Schock waren sie dem östlichen Ufer des Sees Richtung Norden gefolgt, bis sie zu einer noch größeren Wasserfläche gelangten – breiter als ihr Fluss in der Heimat an seiner breitesten Stelle und größer als das Meer, das nunmehr das Sumpfland und die Leichen ihrer Männer bedeckte. In der Tat reichte dieses Gewässer bis zum Horizont, und die Frauen konnten weder Land noch Bäume auf der anderen Seite erkennen. Es war auch ihre erste Begegnung mit Wellen, und sie kreischten vor Angst, als das Wasser in hohen Brechern auf sie zurollte, an den Strand brandete und sich wieder zurückzog, nur um wie ein wildes Tier erneut anzugreifen. Obwohl sich in den Gezeitentümpeln reichlich Nahrung fand -Napfschnecken, Strandschnecken und Muscheln –, hatten die Frauen auf der Stelle kehrtgemacht und waren landeinwärts geflohen, weit weg von dem Meer, das eines Tages Mittelmeer genannt werden sollte, hatten eine feindselige Wildnis durchquert und waren schließlich zu einem nebeligen Flusstal gelangt, das dem in ihrer Heimat so gar nicht ähnelte.
Und hier, vertrieben aus ihrem angestammten Land, getrennt von ihren Männern und allem, was ihnen vertraut war, hatte für diesen kleinen Haufen von neunzehn Frauen, zwei Greisen und zweiundzwanzig Babys und Kindern die Suche nach einer neuen Heimat begonnen.
Als sie nach einer angsterfüllten, mondlosen Nacht erneut durch Morgennebel wanderten, hielten die Frauen hoffnungsvoll Ausschau nach Anzeichen des Schutzgeistes ihres Clans, der Gazelle. Seit sie ihr Flusstal verlassen hatten, war ihnen noch keine einzige begegnet.
Wenn es in diesem fremden Landstrich nun gar keine Gazellen gab?
Während sich Laliari mit ihren Blutsverwandten durch das unwirtliche Tal schleppte, wurde sie von einem noch schrecklicheren Gedanken gequält: Es gab Schlimmeres, als den Schutzgeist des Clans einzubüßen. Schlimmeres, als ihre Männer zu verlieren. Denn sie konnten in dieser seltsamen, nebelverhangenen Welt den Mond nicht sehen. Seit Wochen schon wollte er sich nicht zeigen.
Laliari stand mit ihren Ängsten nicht allein. Die anderen Frauen mochten zwar den Tod ihrer Männer betrauern, noch größer war jedoch für sie der Verlust des Mondes. Er hatte sein Gesicht schon viele Tage lang nicht gezeigt, und sie begannen zu fürchten, dass er für immer verschwunden sein könnte. Ohne den Mond gäbe es keine Babys, und keine Babys bedeutete letztendlich den Untergang des Clans. Die ersten Anzeichen dafür waren schon sichtbar: In all den Wochen, seit die Frauen auf sich allein gestellt umherzogen, war keine von ihnen schwanger geworden.
Laliari rückte sich die schwere Last auf der Schulter zurecht und richtete ihren Blick hoffnungsvoll auf die beiden Alten, die die kleine Gruppe durch den Nebel führten. Alawa und Bellek würden den Mond mit ihren übernatürlichen Kräften und ihrem Zauberwissen bestimmt finden.
Was Laliari jedoch nicht ahnen konnte, war, dass Alawa ihrerseits von Todesangst getrieben wurde und ein schreckliches Geheimnis barg.
Die alte Alawa war die Hüterin der Gazellenhörner und somit die Hüterin der Clangeschichte. Ihr gebührte die Ehre, das Gazellengeweih
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