Kristall der Träume
Tamarisken wuchsen.
Weiter nordwärts verengte sich der Fluss plötzlich und wand sich durch schmale Täler, die von schroffen Hügeln umgeben waren.
Ganz anders als der breite Fluss ihrer Heimat. Dieser dagegen wand und bog sich wie eine Schlange oder führte in einer Schleife zu sich selbst zurück, sodass Alawas Gruppe manchmal Richtung Westen marschierte, dann nach Norden und schließlich nach Osten! Als ob der Fluss sich nicht entscheiden konnte!
Damit nicht genug der Merkwürdigkeiten. Nördlich des toten Meeres waren sie auf eine offene Ebene mit dem saftigsten Grün gestoßen. Aber wo waren die Tiere? Bellek hatte den Erdboden untersucht und Spuren von Tierkot gefunden. Also waren einmal Tierherden hier durchgezogen. Nur, wo waren sie jetzt? Hatte der seltsame nächtliche Nebel die Tiere ebenso vertrieben wie den Mond?
Und nun weinten auch noch die Bäume. Mit jeder mondlosen Nacht, mit jedem Tag, an dem sich keine neue Schwangerschaft bei den Frauen zeigte, wuchs Alawas Besorgnis. Die Knaben mussten geopfert werden, oder der Mond wäre für immer verloren.
Bei Sonnenuntergang bot sich ihnen ein grauenhafter Anblick.
Stumm vor Schreck verharrten die Frauen und Kinder und starrten auf das Unfassbare. Hunderte von Antilopenkadavern türmten sich am Fuße eines Kliffs, die Schädel aufgeschlagen, die Glieder zerborsten. Alawa blickte zu den steilen Felsklippen auf und fragte sich, was diese Tiere dazu gebracht haben mochte, sich von dem Plateau zu stürzen. Was hatte sie so erschreckt?
Die Gruppe hastete weiter, um die unglücklichen Geister der Tiere möglichst rasch hinter sich zu lassen. Schließlich gelangten sie an die Gestade eines Süßwassersees, den künftige Generationen »See Genezareth« nennen sollten. Seine Ufer waren von Bäumen und Büschen, Tamarisken und Rhododendronsträuchern gesäumt, in seinem Wasser tummelten sich Fische, und Tausende von Vögeln bevölkerten den Strand. Nun hatte sich auch der Nebel gelichtet, und die Nachmittagssonne schenkte immer noch Wärme. Bellek hielt die Nase in den Wind und studierte die Wolken. Dann erhob er seinen mit Zauberamuletten und Gazellenschwänzen geschmückten Stab und verkündete, dass hier ein guter Zauber herrschte. Hier würden sie ihr Lager aufschlagen und die Nacht verbringen.
Während er und Alawa ihrem nächtlichen Ritual nachgingen, das ihr Nachtlager von bösen Geistern beschützen sollte, machten sich die Frauen daran, Unterkünfte aus den mitgeführten Tierfellen zu errichten. In Ermangelung von Elefantenknochen, die sie gewöhnlich zum Bau ihrer Hütten brauchten, verwendeten sie Baumstämme, Schößlinge und starke Äste, die sie in den Boden rammten. Der Gazellenclan lebte in einer engen Gemeinschaft – die Unterkünfte wurden nicht nach einzelnen Familien, sondern nach Gruppen und rituellen Zwecken aufgeteilt: die größeren Hütten für die Jäger, die getrennt von den Frauen schliefen; Einzelhütten für die Stammesältesten; Unterkünfte für die jungen, noch kinderlosen Frauen; die Monatshütte der Frauen, die Gotthütte des Schamanen.
Die Form der Hütten war immer rund, damit keine Geister in irgendwelchen Ecken herumspuken konnten.
Die Frauen wollten noch vor der Dämmerung ihr Lager errichten, und dabei hatten Alawas Hütte und die Monatshütte der Frauen absoluten Vorrang.
Während der Menstruation waren Frauen besonders verletzlich und bedurften des Schutzes vor bösen und unglücklichen Geistern.
Es war dies die Zeit der magischen Kräfte, in der sich entschied, ob neues Leben in einer Frau entstehen würde. Wenn sie ihren Blick dem Mond zuwandte, signalisierte ihr seine Phase, dass es an der Zeit sei, sich von den anderen abzusondern. Dann zog sie sich mit ihren Zauberamuletten und spezieller Nahrung zurück und wartete auf die Zeichen: Setzte der Monatsfluss ein, gab es kein neues Leben in ihr. Blieb er jedoch aus, war sie schwanger. Also wurde die Monatshütte als Erste errichtet, wobei Alawa den Eingang mit der schützenden Zauberformel besprach, die Hütte mit Ketten von Kaurimuscheln schmückte und mit rotem Ocker magische Zeichen auf den Erdboden malte.
Bei ihrer Nahrungssuche stießen sie auf einen ihnen unbekannten Baum: kniehoch, mit üppigem Laub und übervoll mit Kapseln, die weiße, fleischige Samen enthielten. Nachdem die Frauen vorsichtig gekostet hatten, ob die Früchte nicht giftig waren, begannen sie die Kichererbsen sogleich einzusammeln. Währenddessen trat Bellek ans Seeufer und spähte
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