Kristall der Träume
brachten sie mit sich, und bei jedem Mondaufgang ließen sie das Wasser steigen, bis es sie in unser Tal trug und sie wussten, dass ihre Suche ein Ende hatte… «
Je länger die Frauen auf Alawa warteten, desto banger wurde ihnen ums Herz. Zwar wussten sie, dass Alawa nach dem Mond Ausschau hielt, aber nachdem die Nacht hereingebrochen war und der Nebel sich im Tal ausgebreitet hatte, befürchteten sie, dass Alawas Suche wieder vergebens sein würde.
Laliari hob den Kopf und versuchte, durch die dichte Nebelwand zu spähen. Der Mond vermochte mehr, als neues Leben in Frauen zu wecken oder ihre Körperfunktionen zu steuern. Er verbreitete des Nachts Lichtschein, wenn er wirklich gebraucht wurde (nicht wie die Sonne, die am Tage schien, wenn es bereits hell war, oder deren Gesicht so intensiv strahlte, dass man nicht hinsehen konnte. Den Mond konnte man stundenlang anschauen, ohne geblendet zu werden). Seiner jeweiligen Phase entsprechend brachte der Mond Blumen des Nachts zum Blühen, Katzen zum Jagen und Fluten zum Anschwellen. Der Mond war berechenbar und tröstlich wie eine Mutter. Nach den finsteren Tagen des Dunklen Mondes pflegte der Clan jeden Monat an einer heiligen Stätte am Fluss zusammenzukommen und auf das Erscheinen des jungen Mondes zu warten - eine schmale Sichel am Horizont. Wenn er dann am Himmel aufstieg, brachen sie in Rufe des Entzückens aus, begannen einen Freudentanz und sangen dazu, denn das Aufgehen des Mondes bedeutete, dass das Leben weiterging.
Während Laliari eines der Waisenkinder in den Armen wiegte, wanderten ihre Gedanken zu ihrem eigenen Baby zurück. Der Mond hatte sie vor einem Jahr damit gesegnet, kurze Zeit nachdem Doron sich dem Clan angeschlossen hatte. Indes hatte das Kind nicht lange gelebt, und Laliari hatte es bei den schroffen Hügeln im Osten lassen müssen. Wie oft schon hatte sie sich danach der aufgehenden Sonne zugewandt in der Vorstellung, ihr Baby dort zu sehen, und sich gefragt, ob sein Geist unglücklich sei. Irgendetwas zog sie immer wieder zu jener Stelle bei den Hügeln hin, aber sie wusste, dass es Unglück brachte, einen Ort mit toten Dingen zu betreten. Laliari konnte sich nur selbst die Schuld an der Krankheit und dem Tod ihres Babys geben. Sie musste unabsichtlich einen Geist gekränkt haben, der sie mit dem Tode ihres Kindes bestrafte, auch wenn Laliari immer bemüht war, alle Regeln und rituellen Gesetze zu beachten. War ihr Heimatland deshalb von Fremden eingenommen worden, und hatten ihre Männer deshalb im Sumpfmeer umkommen müssen?
Obwohl sie wusste, dass es Unglück brachte, an die Toten zu denken, suchte sie an den düsteren Abenden Trost bei den Erinnerungen an Doron. Wie sie sich kennen gelernt hatten. Die jährliche Zusammenkunft der Clans fand jedes Jahr zur Zeit der Überschwemmung statt, wenn der Fluss die Ufer überspülte. Zu Tausenden kamen sie von oberhalb und unterhalb des Flusses, errichteten ihre Unterkünfte und hissten ihre Clansymbole. Bei diesen Zusammenkünften wurden Streitereien geschlichtet, Allianzen geschlossen und erneuert, Neuigkeiten und Klatsch ausgetauscht, Schulden beglichen, Strafen zugemessen und, was besonders wichtig war, Familienmitglieder ausgetauscht. Familien mit weniger Frauen erhielten Frauen von denen mit einem Frauenüberschuss, oder umgekehrt, wenn es an männlichen Familienmitgliedern mangelte. Es war ein umständliches, langwieriges Verfahren zwischen den Parteien, wobei die Stammesältesten in Streitfällen einschritten. Doron und ein anderer junger Mann waren für zwei junge Frauen aus Laliaris Clan eingetauscht worden. Laliari war damals sechzehn Jahre alt gewesen, und sie und Doron hatten einander eine Woche lang heimlich beobachtet. Es war eine Zeit voller Schüchternheit und Ahnungen gewesen, ein Erwachen der Instinkte. Laliari hatte vorher noch nie bemerkt, was für wunderbare starke Schultern Männer haben konnten – insbesondere Doron –, und der Blick des neunzehnjährigen Doron hing wie gebannt an Laliaris schmaler Taille und ihren ausladenden Hüften. Nach der jährlichen Zusammenkunft war Doron Laliari und ihrem Clan zu ihrem angestammten Gebiet gefolgt, und von da an hatten sie jede Nacht zusammen verbracht.
Von ihrem Kummer überwältigt, bettete Laliari den Kopf auf die Knie und begann leise zu weinen.
Unten am Wasser stand zur gleichen Zeit Alawa. Sie hatte eine furchtbare, schmerzliche Entscheidung getroffen: Die Knaben sollten das gleiche Schicksal erleiden wie die Männer
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