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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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eine gute Totenwache würden halten müssen, damit Alawa sie, wenn sie weiterzogen, nicht heimsuchen und quälen könne.
    Das Ritual war so alt wie die Zeit und über Generationen weitergereicht worden. Bellek zog einen Kreis um Alawas Leichnam in den Staub. Begleitet von magischen Gesängen aßen und tranken die Frauen so viel sie konnten, denn von nun an würden sie einen Sonnenzyklus lang fasten. Dann folgte die »stille Wache«. Die Stille musste absolut sein, und niemand durfte fortan essen oder trinken, denn damit würde man den Geist der Toten verärgern und eifersüchtig machen. Jeder wusste, dass Geister unglücklich waren -
    wer wollte schon sterben. Unglücklich, wie sie waren, wollten die Geister die Lebenden ebenso unglücklich machen und quälten sie.
    Mit der »stillen Wache« wollte man dem Geist bedeuten, dass dies ein langweiliger Ort ohne Speisen und Getränke und ohne Fröhlichkeit war, auf dass er weiterziehen und sich einen besseren Ort suchen möge. Bellek hatte eine Decke aus Gazellenleder über den Leichnam gelegt und erklärt, dass damit Alawas Geist daran gehindert würde, von einem von ihnen Besitz zu ergreifen. Der wahre Grund war jedoch ein anderer: Außer ihm hatte keiner die Male am Hals der Alten und den angstvollen Ausdruck bemerkt, der sich im Augenblick des Todes auf ihrem Gesicht eingegraben hatte.
    Beweis genug, dass Alawa ihre Träume falsch gedeutet hatte, als sie erklärte, dass die Jäger kleine Jungen opfern wollten. Wie sonst wäre sie an Todesangst und Erwürgen gestorben, wenn nicht die Geister der Jäger sich in ihr Zelt gestohlen und sie umgebracht hätten? Zum Glück hatte Alawa sich niemandem sonst anvertraut, und so behielt Bellek das Geheimnis für sich. Denn solange er lebte, würden die Knaben – und er selbst – sicher sein.
    Die Frauen hatten einen Tag und eine Nacht lang in stiller Wache gesessen, mit knurrenden Mägen, mit trockenen Lippen und schmerzenden Gliedern. Schließlich teilten sie Alawas Besitztümer untereinander auf, wobei das Gazellengeweih an Bellek ging, ließen den Leichnam liegen, brachen die Zelte ab und nahmen ihre Wanderung nach Norden wieder auf.
    Die Nächte wurden kälter, feuchter Nebel erfüllte das Tal und die Frauen des Gazellenclans, unvertraut mit der herbstlichen Jahreszeit und ihren Nebelschwaden, die allmählich in Winterregen übergehen würden, glaubten, für immer im Nebel gefangen zu sein. Sie froren in ihren dürftigen Unterkünften, bis sie eines Nachts von einem heftigen Unwetter geweckt wurden – einem Sturm, der vom Westen heranröhrte, über die nahe gelegenen Berge fuhr und das bescheidene Lager mit eisigem Atem und Regen scharf wie Speerspitzen überzog. Die Frauen kämpften in den Sturmböen um ihre Zelte, doch der bösartige Orkan heulte wie ein verwundetes Tier, entriss ihnen die schützenden Gazellenfelle und trieb sie weit hinaus auf den tosenden See. Bäume und Sträucher wurden entwurzelt, abgebrochene Äste flogen vorbei, während die Frauen sich aneinander klammerten und versuchten, die Kinder zu schützen.
    Als alles vorüber war, bot sich den Frauen im Licht des Morgens ein Anblick, der sie verstummen ließ: Die entfernten Bergketten, vormals grün, waren jetzt weiß.
    »Was ist das?«, rief Keeka und zog ihre Kleinen näher zu sich heran, während andere Frauen vor Angst wimmerten. Beim Anblick der schneebedeckten Bergspitzen spürte Laliari einen harten Kloß im Hals. Was bedeuteten die weißen Berge? Waren die Berge jetzt Geister? Bedeutete dies, dass die Welt unterging? Mit vor Kälte zitternden Lippen und steifen Gliedern blickte der alte Bellek düster über den See, auf dem die Tierhäute trieben. Die weißen Berge machten ihm keine Angst – vor vielen Jahren, in seiner Jugend, hatte er Geschichten über etwas gehört, das Schnee hieß. Die Welt neigte sich nicht ihrem Ende zu, nur das Wetter änderte sich. Zum Überleben musste die Gruppe einen festen Unterschlupf finden.
    Bellek ließ seinen Blick nach Westen zu den zerklüfteten hohen Bergen wandern, die senkrecht aus der Ebene emporragten. Die Steilhänge waren von Höhlen durchsetzt, in denen es garantiert trocken und warm sein würde. Aber Bellek traute der Sache nicht.
    Sein Volk kannte sich mit Höhlen nicht aus, hatte noch nie darin gelebt. In Höhlen gab es Fledermäuse und Schakale, und, was noch schlimmer war, dort hausten die unglücklichen Geister der Toten.
    Dennoch, er rieb sich fröstelnd die Arme, wo sollten die Frauen

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