Kristall der Träume
Ihr Hunger siegte. Laliari nahm die Gabe an.
Sie hätte das Fleisch am liebsten hinuntergeschlungen, das Gebot des Clans verlangte jedoch, dass Bellek zuerst aß. Folglich zerkaute sie kleine Bissen, spuckte den Brei auf ihren Handteller, um ihn daraufhin Bellek hinzuhalten. Ein langsamer und aufwändiger Prozess, der von dem Fremden aufmerksam verfolgt wurde. Laliaris Grasrock schien ihn zu faszinieren, er besah ihn von allen Seiten und befingerte die langen, trockenen Fasern. Er zupfte an dem geflochtenen Grasgürtel, zog ihn von ihrer Taille, als ob er darüber rätselte, wie Gras aus ihrer Haut wachsen konnte. Dann starrte er lange und intensiv auf die Elfenbeinnadel, die in ihrer Nase steckte, aber als er sie anfassen wollte, gab ihm Laliari einen Klaps auf die Hand.
Schließlich war Bellek satt und schloss ermattet die Augen.
Laliari verschlang das restliche Kaninchenfleisch, saugte die Knochen aus und leckte sich das Fett von den Fingern, wobei sie den Fremden keine Sekunde aus den Augen ließ.
Mit der Zeit wurde es ihm langweilig, und er kehrte an seinen Platz an der Feuerstelle zurück. In der Höhle war es gemütlich warm, und irgendwann fielen alle in einen tiefen Schlaf. Als Laliari des Nachts aufwachte, sah sie zu ihrer Verwunderung den Fremden, quer über das Grab gestreckt, schluchzen. Wohl verstand sie den Akt des Trauerns, aber wusste der Fremde nicht, welches Unglück er heraufbeschwor, wenn er sich so nahe bei einem Toten befand? Wie gerne wäre sie aus dieser Höhle geflohen. Doch inzwischen regnete es in Strömen, und mit seiner Wunde konnte Bellek unmöglich gehen. Bilder des toten Kindes und der Gedanke an böse Geister, die im Schatten der Höhle lauern konnten, ließen Laliari keinen Schlaf mehr finden.
Schließlich richtete sich der Mann wieder auf, verharrte jedoch noch eine Weile auf dem Erdhügel, als würde er mit einer Entscheidung ringen. Dann bedeutete er Laliari, sich zu ihm ans Feuer zu setzen. Sie zögerte, doch ihre Neugier überwog. Nach einem prüfenden Blick auf den friedlich schlafenden Bellek trat sie zu dem Fremden, nicht ohne einen weiten Bogen um das Grab des Kindes zu machen. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen ans Feuer und musterte die Sachen des Fremden, die neben seinem Fellbett lagen: mit Steinspitzen bewehrte Speere, Faustkeile, kleine Lederbeutel mit rätselhaftem Inhalt, aus Stein gehöhlte Schalen, die mit Nüssen und Samenkörnern gefüllt waren. Sie hielt die Hände über das wärmende Feuer, während sie den Fremden mit gesenktem Kopf hinter Wimpern heimlich musterte. Auf seiner behaarten Brust hing eine Halskette aus Tiersehnen, die mit Knochen und Elfenbein bestückt war. In sein langes, verfilztes Haar waren Glasperlen und Muschelschalen geflochten. Kleine dunkelrote Tätowierungen schmückten seine Arme und Beine. Bis auf die derben Gesichtszüge unterschied sich sein Äußeres im Grunde wenig von den Mitgliedern ihres Clans. Sie fragte sich, warum er allein hier war und wo sein Volk geblieben sein könnte.
Schließlich schaute sie ihn direkt an und fragte: »Wer bist du?«
Er schüttelte den Kopf. Er verstand sie nicht.
Mit wiederholten Gesten, indem sie immer wieder auf sich selbst, dann auf ihn deutete, machte sie ihm schließlich ihre Frage verständlich. Er klopfte sich an die Brust und artikulierte etwas, das wie »Ts’ank’t« klang. Als sie versuchte es nachzusprechen, brachte sie lediglich ein »Zant« heraus. Und »Laliari« war für ihn so fremd, egal, wie genau er ihre Lippen- und Zungenbewegung verfolgte, dass es als »Lali« herauskam, und bei Lali blieb es dann. Sie versuchten sich zu verständigen, indem Zant auf andere Dinge zeigte – die Höhle, das Feuer, den Regen, sogar auf Bellek – und dafür Worte in seiner eigenen Sprache verwendete, aber Laliari konnte sie nur mühsam wiederholen. Umgekehrt mühte Zant sich redlich, ihre Worte in ihrer Sprache auszusprechen, aber schließlich gaben sie es ganz auf und blickten stumm in die Flammen, gefangen von dem Wunder, einem Menschen aus einer anderen Welt gegenüberzusitzen.
Eine Frage bewegte Laliari jedoch weiterhin. Sie deutete schließlich auf den kleinen Grabhügel und schaute Zant fragend an.
Als ihm Tränen in die Augen stiegen, wurde sie unruhig, denn in ihrem Clan pflegten Männer selten ungeniert zu weinen. Und in Tränen steckte Macht, genauso wie im Blut, im Urin und im Speichel. Er wischte sie einfach fort und äußerte etwas Unverständliches. Auf ihren
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