Kristall der Träume
übermenschlicher Kraft und einem tierhaften Schrei quer durch die Höhle, sodass sie mit dem Kopf an die Wand schlug und liegen blieb. Ohne Bellek, der stumm und starr dastand, eines Blickes zu würdigen, eilte das Ungeheuer, das sich als Mann in Fellkleidung entpuppte, zu der Grube zurück und bedeckte das tote Kind hastig wieder mit Erde.
Einige Momente später kam Laliari wieder zu sich und fand sich mit schmerzendem Kopf aufrecht an der Höhlenwand sitzend, Bellek an ihrer Seite, der sich sein blutendes Bein hielt. Ihr Blick fiel in die Mitte der Höhle, wo sich eine erstaunliche Szene abspielte. Der Rohling, der sie überfallen hatte, saß über die Grube mit dem toten Kind gebeugt, stieß unheimliche Laute aus und fuchtelte mit den Armen. Der Anblick versetzte Laliari in Angst und Schrecken. Ihr erster Impuls war, aus der Höhle zu fliehen und den Leichnam so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, aber Belleks Bein blutete immer heftiger, und sein Gesicht war fahl geworden. Sie rückte näher an ihn heran, legte ihm einen Arm um die Schulter und überlegte fieberhaft, was sie zu ihrem Schutz tun konnte. Indessen hatte der Fremde, der ihnen weiterhin keine Beachtung schenkte, seinen Gesang beendet und streute nun eine Hand voll Blüten auf das Grab. Dann wandte er sich der glimmenden Feuerstelle zu und entfachte das Feuer neu, wobei die Rauchschwaden durch einen unsichtbaren Spalt in der Decke abzogen. Der Mann war auf der Jagd gewesen. Er häutete zwei Kaninchen und warf sie in das Feuer.
Als das erste angekohlt war, zupfte er die Asche ab und machte sich über das Fleisch her. Während er kaute, blickte er mürrisch zu den beiden hinüber. Der Alte, dem das Blut aus einer Wunde strömte, stöhnte vor Schmerzen, und das Mädchen saß verstört neben ihm, den Arm um seine Schultern. Er hätte die beiden dafür töten sollen, ein so mächtiges Tabu zu brechen und ein Grab zu entweihen.
Vielleicht würde er das ja immer noch tun, überlegte er, während er weiteraß. Stunden vergingen. Der Mann hockte noch immer am wärmenden Feuer, das Gesicht von den Flammen erhellt. Laliari hatte ihn zuerst für ein Tier gehalten, weil sie noch nie einen ganz in Tierfelle gehüllten Menschen gesehen hatte. Außerdem fand sie ihn hässlich mit seinen wulstigen Augenbrauen und der kräftigen Nase, die eher an ein Tier als an einen Menschen denken ließen.
Beunruhigend war auch die Farbe seiner Augen, die sie selbst aus der Entfernung erkennen konnte: Sie waren blau wie der Himmel. So etwas hatte Laliari noch nie gesehen, und sie fragte sich, ob sie vielleicht einem Geist gehörten. War das womöglich der Grund, weshalb er sich in der Nähe eines Leichnams nicht fürchtete?
Als Belleks Stöhnen immer lauter wurde, erhob sich der Mann und kam näher. Sofort sprang Laliari auf und stellte sich schützend vor den Alten. Der Mann schob sie einfach beiseite, hockte sich neben Bellek und untersuchte die Wunde. Laliari verfolgte jede seiner Bewegungen. Bei der kleinsten Bedrohung würde sie Bellek bis aufs Blut verteidigen. Doch der Fremde nahm lediglich etwas aus seinem Lederbeutel am Gürtel und verstrich es auf der Wunde. Als Bellek unter der Berührung zusammenzuckte, machte Laliari sich zum Sprung bereit, doch Belleks Schmerzen schienen nachzulassen.
Der Mann kehrte an seinen Platz zurück. Mit einem Satz war Laliari bei Bellek und beschnüffelte die Wunde, um herauszufinden, was der Fremde aufgetragen hatte. Sie warf Bellek einen fragenden Blick zu, doch der rührte sich nicht. Wenige Augenblicke später stand der Mann wieder vor ihr und reichte ihr eine Schale mit Wasser und ein geröstetes Kaninchen.
Obwohl sie vor Hunger schier umkam, zögerte sie. Die Essensverteilung im Clan unterlag komplexen Regeln, und der Verzehr von Fleisch hing von vielerlei Bedingungen ab: Welcher Jäger hatte das Tier unter welchen Umständen erlegt; wer waren die Mutter des Jägers und die Mutter ihrer Mutter; welche Ältesten hatten das Vorrecht, als Erste zu essen, und in welcher Mondphase befanden sie sich gerade? Wie konnte Laliari sicher sein, dass dieser Fremde die korrekten Zauberformeln gesprochen hatte, als er das Kaninchen erlegte?
Der Gedanke, sie könnte mit einem Tabu belegtes Fleisch verspeisen, erfüllte Laliari mit dem unguten Gefühl eines Sakrilegs, aber das Fleisch war verlockend knusprig und rosig, von Saft und Fett triefend, und verbreitete einen köstlichen Duft. Und der arme Bellek leckte sich bereits die Lippen.
Weitere Kostenlose Bücher