Kristall der Träume
Inneren. Als er sich unerwartet umwandte und seine blauen Augen ihren Blick einfingen, begann ihr Herz auf ungewohnte neue Art zu hüpfen, wie eine Gazelle – freudig, glücklich, lebensfroh.
Doch dieses Gefühl wurde sogleich überschattet, wenn sie an Zants Einsamkeit dachte.
Jeden Tag sah Laliari Zant aufs Neue mit Speer und Axt bewaffnet in den Regen hinausziehen. Wenn er dann vor Kälte zitternd zurückkehrte, jedes Mal mit einem erlegten Stück Wild, häutete er schweigsam das Tier und warf das Fleisch ins Feuer. Und wenn sie sah, wie er sich vor das Feuer hockte und mit einem verlorenen Ausdruck in die Flammen starrte, fragte sie sich immer wieder, warum er dablieb, warum er nicht einfach fortging. Als ob er ihren forschenden Blick spürte, schaute er dann und wann auf und sah ihr in die Augen. Laliari spürte, dass etwas Seltsames, Unerklärliches in der warmen Geborgenheit der Höhle stattfand.
Nach einer Weile brachte er Bellek und ihr gegartes Fleisch und achtete darauf, dass sie auch aßen, bevor er sich über seinen Anteil hermachte. Und während sie kaute, spürte sie seine Blicke, Blicke voller Einsamkeit, Fragen und Sehnsucht.
Sie verbrachten die Tage mit der Suche nach Nahrung, die Abende mit umständlichen Gesprächen, die Nächte in unruhigem Schlaf. Keiner vermochte in Worte zu fassen, was hier geschah, keiner konnte die fremdartigen Gefühle erklären, die von ihnen Besitz ergriffen. Während Laliari und Zant den alten Bellek umsorgten und gesund pflegten, spürten sie noch etwas anderes in der Höhle, eine Gegenwart wie die eines Geistes, doch nicht etwa eines unfreundlichen Geistes, sondern eher wie der Geist des Feuers, weil beide eine innere Hitze empfanden. Laliari fragte sich, wie Zants Volk sich wohl vergnügte, und Zant grübelte darüber nach, wie die Männer und Frauen ihres Stammes sich näher kamen.
Unbekannte Tabus und die Angst, sie zu brechen, standen zwischen ihnen.
Als Laliari eines Tages ihre Habe und etwas zu essen einpackte und die Höhle verließ, wusste Zant, warum sie das tat. In seinem eigenen Stamm pflegten die Frauen sich ebenfalls während ihres Monatsflusses abzusondern. Fünf Tage später kehrte sie in die Höhle zurück, und Zant bedeutete ihr, dass er ihr etwas zeigen wollte. Wie sich herausstellte, sollte dieses Erlebnis ihre Seele bewegen und viele Dinge erklären. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und die Sonne zeigte sich zwischen den Wolken. Zant vergewisserte sich, dass es Bellek an nichts fehlte, dann führte er Laliari auf einem schmalen Pfad zu den Klippen hinauf. Hier, hoch oben über der Welt und unter einem grenzenlosen Himmel, spürte Laliari, wie der Wind ihren Geist durchwehte und in eine andere Sphäre trug. Weit unten erblickte sie sanft gewellte Ebenen, die bereits das erste Frühjahrsgrün zeigten, und in der Ferne den riesigen Süßwassersee, an dem ihre Leute lagerten. So hoch oben hatte Laliari noch nie gestanden, noch nie einen solchen Blick in die Welt genossen.
Es war jedoch nicht dieser Anblick, der so vieles erklären sollte.
Wortlos führte Zant sie über die ausgedehnte Hochfläche bis zum äußersten Rand, von wo es senkrecht in die Tiefe ging. Laliari fürchte sich, so nahe an die gefährliche Kante zu treten, aber Zant hielt ihren Arm und ermutigte sie mit einem Lächeln. Obwohl sie fürchtete, der Wind würde sie davontragen, wagte sie einen Blick in die Tiefe und erschauerte.
Am Fuß des Steilhangs türmte sich ein Berg von Pferdekadavern, von denen ein bestialischer Gestank der Verwesung ausging. Nach dem, was Zant mit vielen Gesten und Gebärden zu erklären versuchte, bekam Laliari allmählich einen Vorstellung von dem, was geschehen war: Zant und sein Stamm hatten diese Tiere in ihr Verderben getrieben. Das war ihre Jagdmethode. Laliari erinnerte sich an den Berg von Antilopenkadavern, den sie vor Wochen passiert und sich dabei gefragt hatten, wieso die Tiere sich in den Abgrund gestürzt hatten. Jetzt verstand sie den Grund dafür. Dann wurde ihr klar, dass die Menschen nur einen geringen Teil der Tiere verwendet hatten. Aus Zants plumpen Worten und Gesten wurde deutlich, dass seine Leute den Tieren bei lebendigem Leib die Bäuche aufschlitzten, hineinkrochen, um die Organe herauszuziehen, dass sie sich an pulsierenden Herzen, dampfenden Lebern labten und sich mit Blut beschmierten, um sich mit dem Geist des Pferdes zu stählen.
Was für eine entsetzliche Verschwendung, befand Laliari. Ihr Volk hätte jedes
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