Kristall der Träume
Enoch, der Zahnreißer, und Lea, die hastig, an einen Baum gelehnt, kopulierten. Er sah Dagan, den Fischer, aus Mahalias Hütte kriechen, während seine Habseligkeiten hinter ihm herflogen. Vor einem Monat erst war Dagan zu Ziva gezogen, den Monat davor zu Anath. Avram fragte sich, warum die Frauen Dagans so schnell überdrüssig wurden und ihn hinauswarfen. Der arme Dagan – wie sollte ein Mann ohne Frau und häuslichen Herd leben?
Beim Anblick von Namir, der eine Herde Ziegen vor sich hertrieb, musste Avram herzlich lachen. Der Alte war von der Idee besessen, es sei viel einfacher, Ziegen in einem Stall zu halten und nach Bedarf zu schlachten, als sie in den Bergen zu jagen. Folglich war er mit seinen Neffen losgezogen, Ziegen zu fangen, und da ihre Herde sich vermehren sollte, hatten sie sich auf die weiblichen Tiere beschränkt und die Ziegenböcke zurückgelassen. Nach einem Jahr war der Bestand jedoch aufgebraucht, die Ziegen hatten keinen Nachwuchs produziert, und der Rest war verspeist oder verkauft worden. Die Nachbarn lachten sich halb tot, aber Namir schwor auf seinen Plan. »Wenn die Ziegen sich in den Bergen vermehren, warum nicht in meinem Stall?«, erklärte er seinen Freunden über Unmengen von Bier. Also machte er sich von neuem auf und trieb eine Herde Ziegen in seinen Stall. Diesmal warfen sie überhaupt keine Jungen, und in kürzester Zeit war der Bestand aufgegessen oder verkauft. Und jetzt war er schon wieder mit neuen Ziegen unterwegs, trieb und peitschte sie durch das erwachende Dorf, während die Bewohner ihm spöttische Blicke nachwarfen und insgeheim Wetten abschlossen, wie lange seine Herde diesmal wohl halten würde. Nicht alle Lebensentwürfe waren so verrückt wie der Namirs.
Avram erinnerte sich, wie alle Dorfbewohner einen Mann namens Yasap verspottet hatten, der vor zehn Jahren zugezogen war und Blumenfelder angelegt hatte. Die Leute hatten ihn ausgelacht, weil sie in der Blumenzucht keinen Sinn sahen. Das Lachen verging ihnen, als die Bienen zu den Feldern flogen, Yasap Bienenkörbe aufstellte und den Honig einsammelte. Zum ersten Mal in ihrem Leben verfügten die Menschen während des ganzen Jahres über Zucker, und die Nachfrage war so groß, dass Yasap inzwischen zu den reichsten Männern des Dorfes zählte.
Immer mehr Menschen siedelten sich an der Stätte der Ewigen Quelle an, sie kamen, schauten sich um, entdeckten neue Lebensperspektiven, bauten eine Unterkunft und blieben. Menschen mit besonderen handwerklichen Fähigkeiten boten ihre Dienste für Nahrung, Kleidung und Schmuck an; Barbiere und Tätowierer, Wahrsager und Sterndeuter, Knochenschnitzer und Steinschleifer, Fischer und Gerber, Hebammen und Wundheiler, Fallensteller und Jäger. Viele kamen, die meisten blieben.
Wenn ich frei und ungebunden wäre, sinnierte Avram, würde ich keinen Augenblick länger hier bleiben. Ich würde Brot und Bier einpacken, meinen Speer schultern und herausfinden, was hinter den Bergen liegt.
Helle Kinderstimmen rissen ihn aus seinen Gedanken. Avram sah seine kleinen Brüder zwischen den Weinstöcken herumtollen. Mit ihren dreizehn, elf und zehn Jahren hatten sie sich die Weinberge zum Spielplatz erkoren. Wenn erst die Weinlese begann, würden sie mit ganzem Eifer beim Pflücken helfen und später mit ihren kleinen Füßen die Trauben in den großen Bottichen zermanschen. Avram wollte gerade seinem ältesten Bruder Caleb zuwinken, als er innehielt. Eine alte Frau in einem Hirschlederrock, mit bloßen Brüsten, die langen Haarflechten mit erkennbar weißen Ansätzen unter der Hennafärbung, kam mühsam den Pfad heran. Sie schien unter dem Gewicht der zahllosen Stein- und Muschelketten beinahe zusammenzubrechen, aber als reiche Frau gehörte es zu ihren Pflichten, den Wohlstand der Familie auf diese Weise zu demonstrieren.
Avram konnte es kaum fassen. Was machte seine Großmutter um diese Stunde auf dem Weg zum Schrein der Göttin? Es konnte nur etwas Wichtiges sein. Hatte sie etwa seine heimliche Liebe zu Marit entdeckt? Wollte sie die Göttin anrufen, damit sie ihn verzauberte?
Wie die meisten Knaben hatte Avram höllische Angst vor seiner Großmutter. Alte Frauen besaßen unendliche Macht. Avrams Hand fuhr automatisch zu seinem Talisman, den er an einem Lederband um den Hals trug. Nach alter Tradition erhielt jedes Kind im Alter von sieben Jahren, wenn es so aussah, als ob es das Erwachsenenalter erreichen würde, einen richtigen Namen und einen kleinen Lederbeutel für seine
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