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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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der Ewigen Quelle« verfärbte sich der Himmel rosa, und das Dorf erwachte zum Leben. Es lag eine halbe Tagereise westlich von dem Fluss, den die Menschen Jordan nannten, das bedeutete »der Absteigende«, denn er floss von Norden nach Süden. Von seinem Ausguck konnte Avram nicht nur die Weinberge seines Abba und die Gerstefelder von Serophia erkennen, er hatte auch einen ausgezeichneten Überblick über die gesamte Ansiedlung mit ihren rund zweitausend Menschen, die in Lehmziegelhäusern, Grashütten und Zelten hausten oder, in ihre Schlaffelle gerollt, ihre wenigen Habseligkeiten unter ihrem Körper versteckt, einfach im Freien lagerten. Unzählige Menschen waren hier sesshaft geworden, andere kamen und gingen. Viele kamen an die Stätte der Ewigen Quelle, um zu handeln und zu feilschen, man tauschte Obsidian gegen Salz, Kaurimuscheln gegen Leinöl, grünen Malachit gegen gesponnenen Flachs, Bier gegen Wein und Fleisch gegen Brot. Im Zentrum des Ortes sprudelte die unversiegbare Quelle, von der lange Bewässerungskanäle in alle Richtungen führten und an der um diese frühe Stunde bereits Frauen und Mädchen zum Wasserschöpfen zusammenkamen.
    Avram rutschte unruhig auf seinem Sitz umher. So viele Frauen, und nicht eine von ihnen war so schön und bezaubernd wie seine geliebte Marit.
    Wie die meisten Jungen seines Alters war Avram in sexuellen Dingen nicht ganz unerfahren. Wobei der Sport hauptsächlich darin bestand, mit den Freunden hügelan zu ziehen, sich ein Mutterschaf zu greifen und es mit ihm zu treiben. Mit Mädchen hatte er nur begrenzte Erfahrung, mit Marit überhaupt keine. In all den Jahren, in denen sie Haus an Haus lebten, hatten sie noch kein einziges Wort gewechselt. Und seine Großmutter würde ihn mit Sicherheit umbringen, wenn er es je wagte.
    Avram wünschte sich in die alten Zeiten zurück, in der es, wie er meinte, so viel besser zugegangen war als heute. Er konnte sich gar nicht satt hören an den Geschichten über die Vorfahren, über die wahren Urahnen, die alle noch als Nomaden in einem großen Stamm lebten, wo Männer und Frauen sich nehmen konnten, wen sie wollten. Heute zogen keine Nomaden mehr in großen Clans umher, es gab nur noch kleine Familien, die in einem Haus auf einem festen Stück Land lebten und einander um ihren Besitz beneideten. »Yubals Wein schmeckt wie Eselpisse«, pflegte Marits Abba, Molok, zu sagen. »Moloks Bier ist aus Schweinehoden gepresst«, wusste Avrams Abba, Yubal, zu kontern. Nicht, dass sie sich das etwa offen ins Gesicht gesagt hätten. Die Menschen vom Clan der Talitha und der Serophia hatten seit Generationen kein Wort mehr miteinander gewechselt.
    Man durfte also sicher sein, dass ein Junge der einen Familie und ein Mädchen aus der anderen niemals zueinander finden würden.
    Avram fand das ungerecht. Diese Feindschaft war Sache seiner Vorfahren, nicht seine. In seinen kühnsten Träumen malte er sich aus, wie er mit Marit (nachdem er überhaupt erst Mittel und Wege gefunden hatte, mir ihr zu sprechen) weglaufen und mit ihr die Welt erkunden würde. Avram war der geborene Träumer und Sucher, mit einer rastlosen Seele und einem ruhelosen Geist. In einem anderen Zeitalter wäre er Astronom oder Forscher, Erfinder oder Gelehrter geworden, immer auf der Suche nach dem »Warum«. Fernrohre und Schiffe jedoch, Metallurgie und das Alphabet, selbst die Erfindung des Rads und das Domestizieren von Tieren lagen noch in unendlich weiter Ferne.
    Avram brach sich ein Stück Fladenbrot ab, und während er kaute, ließ er den Blick über die bescheidenen Lehmhäuser schweifen, die am Rande von Serophias Gerstefeldern kauerten, bis sein Blick auf dem Haus von Marits Familie verweilte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, was Marit für ihn empfand. Es gab Momente, da spürte er, wie sie ihn anschaute. Und erst vor wenigen Wochen, beim Fest der Frühlingstagundnachtgleiche, hatte sie den Blick hastig abgewandt, während ihr die Röte in die Wangen stieg. War das ein gutes Zeichen? Bedeutet das etwa, dass sie seine Gefühle teilte? Wenn er es nur wüsste!
    Während die Sonne allmählich höher stieg, spähte Avram unverwandt nach Marit aus. Wenn er um diese frühe Stunde einen Blick auf sie erhaschte, wäre das ein gutes Zeichen. Doch alles, was er sah, war die fette Cochava, die ihre Kinder mit einem Stock scheuchte, zwei Ziegelbrenner im Streit um ein Fass Bier (offenbar hatten sie die ganze Nacht durchgezecht);

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