Kristall der Träume
Erregung von neuem. Als er die oberste Plattform erreichte, hatte er bereits wieder eine prächtige Erektion. In seinem ganzen Leben war Avram noch nie so verliebt und noch nie so unglücklich gewesen.
Er war gerade sechzehn Jahre alt.
Das Ziel seiner Wünsche war ein Mädchen von vierzehn Jahren, mit schwellenden Brüsten und den Augen einer Gazelle, mit schlanken Gliedmaßen, leicht wie der Wind und von sanftem Gemüt.
Der Grund für sein Unglück war die Tatsache, dass Marit zu Serophias Familie gehörte, während Avram Talithas Clan entstammte. Ihre Familien hatten sich über zwei Jahrhunderte lang befehdet, und ihr gegenseitiger Hass war Legende. Wenn auch nur irgendjemand von Avrams heimlicher Liebe erfuhr, würde er öffentlich gedemütigt und verflucht, geschlagen und eingesperrt und möglicherweise sogar kastriert werden. Zumindest sah die Strafe in Avrams jugendlicher Vorstellung so aus.
Und dabei ging ihm das Gespräch mit seinem Abba Yubal, drei Jahre zuvor, im Kopf herum, als Avram die Veränderungen in seinem Körper bemerkt hatte. »Das Leben ist hart, mein Sohn«, hatte er gesagt. »Tägliche Mühsal, Plackerei und Leid. Doch die Göttin in all ihrer Weisheit hat uns die Gabe des Genießens geschenkt, die uns für alles entschädigt. Sie hat dafür gesorgt, dass Männer und Frauen einander Genuss bereiten, damit sie ihr Elend vergessen können.
Wenn dich also das Verlangen packt, mein Sohn, stille es, wo du kannst, denn das ist es, was unser aller Mutter wünscht.« Offenbar hatte Yubal Recht, denn soweit Avram erkennen konnte, waren die Bewohner der Stätte der Ewigen Quelle vorrangig damit beschäftigt, die Weisungen der Göttin zu befolgen. Der beliebteste Zeitvertreib im Dorf bestand in einer endlosen Folge von Verliebtsein, Zusammenleben und Schlussmachen. Die Klatschsüchtigen pflegten bei ihren Bierbottichen zu hocken und Wetten abzuschließen, wie lange eine neue Paarung bestehen oder wer wann aus wessen Hütte gekrochen kommen würde. Manchmal wurde eine Beziehung von beiden Partnern beendet, meistens jedoch war es so, dass ein Partner der Verbindung überdrüssig wurde und eine neue Beziehung einging. Das konnte zu heftigen Kämpfen führen. (Allen noch gut im Gedächtnis war jener Tag, da Lea, die Geburtshelferin, Uriah, den Bogenmacher, mit einer der Zwillingsschwestern ertappte. Lea hatte die Frau regelrecht skalpiert und Uriah mit kochend heißem Wasser übergossen. Der Bogenmacher hatte die Flucht ergriffen und war nie mehr gesehen worden.) Dann gab es die seltenen Fälle, in denen ein Paar ein Leben lang zusammenblieb – bei seiner Mutter und seinem Abba war es so –, und genauso stellte Avram sich das Leben mit seiner geliebten Marit vor: Liebende in alle Ewigkeit.
Avram stand auf dem Turm und atmete tief ein in der Hoffnung, dass die frische Morgenluft sein inneres Feuer kühlen würde, damit er sich auf seine Aufgabe konzentrieren konnte, herumstreifende Truppen auszuspähen. Er wollte alles richtig machen. Im letzten Jahr waren die Räuber ohne Vorwarnung aus dem Osten gekommen, hatten seine Mutter brutal hingeschlachtet und seine beiden Schwestern verschleppt. Als Folge davon hatte man den Wachturm errichtet und Avram zum Schutz gegen künftige Attacken als Wachposten abgestellt.
Die Räuber kamen nicht regelmäßig, und ihre Attacken ließen sich nicht vorhersagen. Sie waren eine wilde Schar, ihr Land lag jenseits der östlichen Berge, und sie lebten vom Jagen und Stehlen.
Keiner wusste, wer sie waren oder wie sie lebten, weil noch keiner den Mut aufgebracht hatte, sie nach einem Überfall zu verfolgen.
Dafür gab es umso mehr Gerüchte. Es hieß, die Räuber äßen Steine und tränken Sand, und dass sie, in Ermangelung eigener Frauen, den Fortbestand ihrer Art sicherten, indem sie die Frauen anderer Stämme verschleppten. Im Schlaf verließen ihre Seelen ihre Körper und wanderten umher, hieß es. Und dass sie ihre Toten äßen.
Wachsamkeit war also geboten. Es fiel Avram einigermaßen schwer, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren, wo er doch an nichts anderes denken konnte als an Marit und seinen wunderbaren Traum.
Kein Mann war je so von Verlangen getrieben worden wie er. Nicht einmal sein Abba, Yubal, der in aller Öffentlichkeit Tränen über den Tod seiner Frau geweint und sie zur Liebe seines Lebens erklärt hatte.
Der Junge schüttelte derlei Gedanken ab und wandte sich seiner Aufgabe zu.
Über den östlichen Bergen und der Ansiedlung mit Namen
»Stätte
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