Kristall der Träume
wusste und geglaubt hatte, dem Mann einen Gefallen zu tun, bohrte sich der Stachel der Erkenntnis immer tiefer in sein Fleisch. Weder der Segen der Göttin noch die guten Wünsche der Freunde oder die Versicherungen der Wahrsager und Sterndeuter, dass er das Richtige getan hatte, vermochten ihm den bitteren Geschmack im Mund zu nehmen. Er hasste den Serophia-Clan nach wie vor, Molok ganz besonders, und bereute zutiefst, dass er den Fortbestand des Talitha-Clans nicht auf andere Art hatte retten können. Als die Prozession vor dem Haus der Talitha-Familie ankam, bat Reina die Göttin um ihren Segen, und alle Umstehenden brachen in Freudenrufe aus und wünschten beiden Familien alles Gute. Molok und seine Schwester küssten Marit zum Abschied, ihre Brüder warfen Yubal finstere Blicke zu, die besagten, dass sie sehr genau auf das Wohlergehen ihrer Schwester achten würden. Dann torkelten Yubal und Avram zu ihrem Nachtlager, während die Großmutter Marit zu den Unterkünften der Frauen führte. Ein satter, gelber Mond, der eher einem Frühlingsmond glich, stand am Himmel, sein Schein fand den Weg durch das kleine Fenster in der Ziegelwand und fiel auf Marit, die mit offenen Augen in ihrem neuen Bett lag. Sie wartete auf Avram. Es war vereinbart, dass er zu ihr kommen würde, wenn alle anderen schliefen. Aber wo blieb er?
Sie lauschte in die Stille des Hauses, die nur vom Schnarchen der alten Frau und der jüngeren Brüder durchbrochen wurde. Als sie es nicht mehr aushielt, schlüpfte sie aus dem Bett und huschte, völlig nackt, auf Zehenspitzen zu den Männerräumen auf der anderen Seite des Hauses hinüber.
Im gleichen Moment warf Yubal sich im Schlaf herum. Im Traum erschien ihm seine geliebte Gefährtin, Avrams Mutter, die ihm zuflüsterte, sie sei gar nicht tot und käme zurück zu ihm. Selig schloss er sie in die Arme und begann sie zu liebkosen, als er mit einem Ruck erwachte. In seinem benebelten Zustand starrte er ratlos ins Dunkel, unfähig zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wo war sie hin?
Ein Geräusch lenkte seinen Blick zur Seite, und da sah er sie –
Avrams Mutter, jung und schlank und nackt, wie sie auf Zehenspitzen auf ihn zukam.
Yubal rappelte sich mühsam auf, torkelte ihr entgegen und zog sie in seine Arme.
Marits Aufschrei riss Avram aus dem Schlaf. Er blinzelte in die Dunkelheit, sah zwei Gestalten im Mondlicht, glaubte, er sähe doppelt, rieb sich die Augen und starrte erneut hin. Zwei Menschen in heftiger Umklammerung, nackt.
Avram sprang aus dem Bett und fiel sofort vornüber auf die Knie. Das musste ein Traum sein. Oder eine Halluzination. Das Bild verschwamm vor seinen Augen, als ob das ganze Haus unter die Ewige Quelle gesunken sei und nun unter Wasser läge. Er sah fahle Arme, die sich wie Schlangen wanden, zwei Köpfe in einem merkwürdigen Tanz. Taumelnde Glieder, sich windende Körper.
Liebende in einer Unterwasserumarmung.
Da schoss die Erkenntnis wie ein Blitz durch den Nebel seiner Trunkenheit: Marit! In Yubals Armen!
Er versuchte wieder auf die Beine zu kommen, aber der Boden unter ihm schwankte wie ein Boot im Sturm, sein Magen hob sich, und er begann zu würgen.
Er schaffte es gerade noch nach draußen, wo er sich im Gemüsegarten seiner Großmutter erbrach. Er holte ein paar Mal tief Luft, aber die Übelkeit überwältigte ihn erneut. Yubals Hände auf Marits Körper.
Das Würgen wurde schlimmer. Er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen, erdrückt vom Chaos der Gefühle. Yubal und Marit! Er stürzte davon. Hustend und stöhnend, die Welt ein irrer Kreisel, rannte er in den Weinberg und warf sich zu Boden. In seinem alkoholisierten Schädel rasten die Gedanken, und mit einem Mal glaubte er zu erkennen, das Yubal alles eingefädelt hatte, nur um Marit zu bekommen.
»Nein«, flüsterte er mit dem Gesicht zur Erde. »Das kann nicht sein.«
Verzweifelt versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen, aber schon packte ihn rasende Eifersucht. Unbeherrschte Wut stieg in ihm auf. Schwankend stand er auf, reckte die geballte Faust gen Himmel und schrie in die Nacht: »Du hast mich verraten! Das hat du mit Absicht getan! Holst meine Liebste ins Haus und willst mich wegschicken. Du hast sie nur für dich allein gewollt! Verflucht seist du, Yubal! Mögest du tausend schreckliche Tode sterben!« Unter Schluchzen lief Avram ein paar Schritte, brach tränenblind durch die Weinstöcke, bis ihn schließlich die Übelkeit völlig überwältigte.
Kopfüber stürzte
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