Kristin Lavranstochter 1
sei.
Weithin lagen von Wäldern zottige Berghänge unter ihr; das Tal war nur wie eine Senkung zwischen den mächtigen Bergen, und die Seitentäler waren noch kleiner; sie waren zahlreich, aber trotzdem sah man wenige Täler und viele Berge. Überall ragten graue Felskuppen empor, goldgeflammt von Flechten, und über dem Waldteppich und weit hinaus gegen den Himmelsrand stand das blaue Gebirge mit weißen Schneeflecken und vermischte sich für das Auge mit den graublauen und weißglänzenden Sommerwolken. Aber im Nordosten, in der Nähe - gleichsam hinter dem Almenwald -, lagen einige gewaltige steinblaue Berge mit Neuschnee auf den Hängen. Kristin konnte erkennen, daß dies die Eberberge* waren, von denen sie gehört hatte, denn sie glichen wirklich einer Schar mächtiger Eber, die bergeinwärts gingen und dem Tal die Hinterseite zuwandten. Arne sagte, es sei ein halber Tagesritt, bis man zu ihnen hingelange.
Kristin hatte geglaubt, wenn sie nur auf die Höhe der zunächstliegenden Berge komme, so würde sie schon in eine andere Gemeinde hinuntersehen können, ähnlich ihrer eigenen mit Höfen und Herden, und es berührte sie seltsam, als sie sah, daß
* Rondanegebirge.
die Orte, wo Menschen wohnten, so weit auseinanderlagen. Sie sah die kleinen gelben und grünen Flecke unten im Grunde des Tales und die winzig kleinen Lichtungen mit grauen Häuserwürfeln in den Bergwäldern; sie fing an, sie zu zählen, aber als sie drei Dutzend gezählt hatte, konnte sie sie nicht mehr auseinanderhalten. Und trotzdem waren die Wohnstätten der Menschen wie ein Nichts in der Wildnis.
Sie wußte, daß im wilden Walde Wolf und Bär herrschten und daß unter jedem Stein Trolle und Kobolde und Elfen wohnten, und es wurde ihr angst, denn niemand kannte ihre Zahl, aber es mußten ihrer viel, viel mehr sein, als es Christenmenschen gab. Da rief sie laut nach ihrem Vater, aber er hörte sie nicht in dem Sturm da oben - er und seine Dienstleute waren gerade damit beschäftigt, große Steine auf den Gipfel zu wälzen, um mit ihnen die Stämme des Scheiterhaufens zu stützen.
Isrid ging zu den Kindern und zeigte Kristin die westlichen Vaageberge. Und Arne zeigte ihr das Graue Gebirge, wo die Bewohner der Täler das Renntier in Gruben fingen und die Falkenfänger des Königs in Steinhütten lebten. Dieser Arbeit gedachte Arne sich selbst einmal zu widmen; aber dann wollte er auch lernen, die Vögel zur Jagd abzurichten - und er hob den Arm, als schleudere er den Falken in die Luft.
Isrid schüttelte den Kopf.
„Das ist ein wüstes Leben, Arne Gyrdssohn - es würde deiner Mutter ein großer Kummer sein, wolltest du ein Falkenfänger werden. Dort kann sich kein Mann halten, ohne daß er sich mit den übelsten Menschen und mit dem, was noch schlimmer ist, gemein macht.“
Lavrans war zu ihnen getreten und hatte die letzten Worte gehört.
„Ja“, sagte er, „da drüben ist wohl mehr als eine Wohnstätte, die weder Abgaben noch Zehent zahlt..
„Ja, du hast wohl allerlei gesehen, Lavrans“, versuchte Isrid mehr aus ihm herauszulocken. „Du gehst ja so tief ins Gebirge hinein..
„Ja, jaaa“, sagte Lavrans gedehnt. „Kann sein - aber mich dünkt, man sollte nicht über so etwas reden. Man soll den Menschen, die sich den Frieden in den Tälern verscherzt haben, den» Frieden gönnen, den sie im Gebirge finden können, meine ich. Habe ich doch gelbe Felder und schöne Wiesen gesehen in Gegenden, von denen nur wenige Menschen wissen, daß sie Täler bergen - und Herden von Rindern und Kleinvieh habe ich gesehen, aber ich weiß nicht, ob sie den Menschen oder anderen Wesen gehörten ..
„Jaja“, sagte Isrid. „Bär und Wolf wird die Schuld gegeben, wenn das Vieh hier auf den Almen wegkommt, aber es gibt hier im Gebirge noch schlimmere Räuber als sie.“
„Nennst du sie schlimmer?“ fragte Lavrans gedankenvoll und strich der Tochter über die Haube. „Drinnen in den Bergen, südlich unter den Eberkämmen, sah ich einmal drei kleine Knaben, und der größte war so wie Kristin hier: blondes Haar hatten sie und Pelzkittel. Sie fletschten die Zähne gegen mich wie junge Wölfe, ehe sie davonrannten und sich verbargen. Es ist wohl nicht so verwunderlich, wenn es den armen Mann, dem sie gehörten, gelüstete, sich ein oder zwei Kühe zu holen.“
„Oh, Junge haben auch der Wolf und der Bär“, sagte Isrid böse. „Und die schonst du nicht, Lavrans, weder sie noch ihre Jungen. Obgleich sie weder Gesetz noch Christentum gelernt
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