Kristin Lavranstochter 2
hundert Lichter - die Kirchendiener nahmen den Pilgern die Kerzen ab und steckten sie auf die mit Kerzendornen versehenen kleinen Pyramiden, die in der ganzen Kirche aufgestellt waren. Je mehr das Tageslicht draußen hinter den bunten Glasscheiben dahinstarb, desto anheimelnder wurde es in der Kirche durch den Geruch des brennenden Wachses, doch nach und nach erfüllte ein säuerlicher Gestank von den Lumpen der Kranken und Armen die Luft.
Als der Chorgesang unter den Gewölben ertönte und Orgelton, Flöten, Trommeln und Saitenspiel erklangen, verstand Kristin, warum man die Kirche oft ein Schiff nannte - in diesem mächtigen Steinhaus schienen alle Menschen an Bord eines Schiffes zu sein, und der Gesang war wie das Brausen eines Meeres, von dem es dahingetragen wurde. Von Zeit zu Zeit, wenn eine einzelne Männerstimme allein das Lesestück über die Masse hintrug, legte sich Ruhe über das Schiff, als gleite es auf ausschwingender Dünung dahin.
Ein Gesicht nach dem anderen, die immer blasser und müder wurden, je mehr die Nacht vorschritt. Fast niemand ging zwischen den Gottesdiensten hinaus, jedenfalls keiner von denen, die einen Platz in der Mitte der Kirche erobert hatten. In der Zeit zwischen den Nocturnen schlummerten oder beteten sie. Das Kind schlief fast die ganze Nacht hindurch - ein paarmal mußte Kristin es ein wenig beruhigen oder ihm Milch aus einer Holzflasche geben, die Gunnulv ihr aus dem Kloster verschafft hatte.
Die Begegnung mit Erlends Bruder hatte sie aufgewühlt -nachdem jeder Schritt auf dem Weg hierher nach Norden sie der Erinnerung an den Toten immer näher und näher gebracht hatte. Sie hatte in den letzten Jahren, während die Sorge um die heranwachsenden Söhne ihr kaum Zeit ließ, sich ihres eigenen Schicksals zu erinnern, wenig an ihn gedacht - trotzdem hatte der Gedanke an ihn stets gleichsam dicht hinter ihr gestanden, bloß daß sie keine Zeit gefunden hatte, sich ihm zuzuwenden. Jetzt dünkte es sie, als erblicke sie ihre Seele in diesen Jahren; diese hatte gelebt, wie die Leute in der letzten arbeitsreichen Sommerhälfte auf den Höfen leben, wenn sie aus der Großstube ausgezogen sind und im Dachraum oben wohnen. Dann geht und läuft man den ganzen Tag an der Winterstube vorbei,
denkt jedoch nie daran, hineinzugehen, obgleich man nur die Klinke niederzudrücken und die Türe zu öffnen brauchte. Und hat man endlich einmal eines Tages etwas darin zu tun, so ist einem die Stube durch den Geruch der Einsamkeit und durch die Stille fremd und fast feierlich geworden ...
Aber während sie mit diesem Mann sprach, der der letzte lebende Zeuge jenes Wechselspiels zwischen Aussaat und Ernte in ihrem Leben mit dem Toten war - dünkte es sie, daß sie jetzt dahin gelangt sei, ihr Leben auf eine neue Art zu betrachten: so, wie wenn man auf eine Anhöhe über der Heimatgemeinde kommt, auf der man noch nie gewesen ist, und von dort auf sein eigenes Tal hinabblickt. Jeden Hof und jeden Zaun, jedes Gebüsch und jeden Flußlauf kennt man, aber man scheint zum erstenmal zu sehen, in welcher Art alles auf diesem Stück Erde liegt, das die Gemeinde trägt. Und aus diesem neuen Anblick heraus hatte Kristin plötzlich Worte gefunden, die nicht nur ihre Bitterkeit gegen Erlend, sondern auch ihre Angst um seine im jähen Tod dahingeschiedene Seele auflösten. Groll hatte er nie gekannt; sie sah dies jetzt, und Gott hatte es stets gesehen.
So war sie denn endlich so weit gelangt, daß sie ihr eigenes Leben gleichsam von dem obersten Sattel eines Bergeinschnitts zu sehen glaubte. Jetzt führte sie ihr Weg in das dunkle Tal hinunter, vorher aber war ihr noch die Gnade vergönnt gewesen, zu erfassen, daß in der Einsamkeit des Klosters und an der Pforte des Todes einer auf sie wartete, der das Leben der Menschen stets so gesehen hatte, wie sich die menschlichen Gemeinden von den Höhen der Berge aus darbieten. Er hatte die Sünde und die Sorge und die Liebe und den Haß in den Herzen gesehen, wie man die reichen Höfe und die armen Hütten sieht, wogende Äcker und brachliegendes Ödland, von der gleichen Erde getragen. Und er war herabgestiegen, seine Füße hatten die Länder der Menschen durchwandert, er hatte in Burgen und in Hütten gestanden, hatte die Sorgen und die Sünden der Vornehmen und der Geringen gesammelt und sie hoch mit sich ans Kreuz gehoben. Nicht mein Glück und meinen Übermut, sondern meine Sünden und meine Sorgen, o du mein süßer Herr... Sie blickte auf, dorthin, wo das
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