Kristin Lavranstochter 2
währenddessen das schreiende Kind. Als sie schließlich seinen Kopf an ihren Hals lehnte und es streichelte, um es zu trösten, begann es saugend an ihr herumzusuchen. Sie begriff, daß es durstig war, und wußte sich gar nicht zu helfen. Nach der Mutter zu suchen schien verlorene Mühe, sie mußte in die Stadt hinuntergehen und sich erkundigen, ob sie nicht Milch für das Kind erhalten könnte. Als sie aber in die obere Straße kam und von dort aus weitergehen wollte, entstand wiederum ein großes Gedränge - von der anderen Seite her kam eine Reiterschar und zugleich der Zug der Burgknechte vom Königshof, die alle auf den Platz zwischen der Kirche und dem Hof der Chorherren zudrängten. Kristin wurde in eine Seitengasse geschoben, aber auch hier waren Reiter und Herren, die zur Kirche wollten, und das Gedränge wurde so groß, daß sie sich schließlich auf eine Steinmauer hinaufflüchten mußte.
Die Luft war mit Glockenklang erfüllt - von der Domkirche läutete man nona hora ein. Bei diesem Laut hörte das Kind zu schreien auf, es blickte zum Himmel empor, und dabei leuchtete ein Schimmer von Verstand in seinen stumpfen Augen auf -es lächelte ein wenig. Bewegt beugte sich die alte Mutter hinab und küßte das arme Ding. Da sah sie, daß sie auf der Mauer saß, die den Hopfengarten von Nikulaushof, ihrem alten Stadthof, einschloß.
Wie konnte sie nur den gemauerten Schornstein, der über dem Wasendach aufstieg, die Rückseite ihres Wohnhauses, nicht gleich wiedererkennen! In ihrer nächsten Nähe lagen die Häuser des Spitals, über das Erlend sich so geärgert hatte, weil jenem ein Recht auf die Benutzung des Gartens eingeräumt worden war.
Sie preßte das Kind der fremden Frau an ihre Brust, küßte und küßte es. Da berührte sie jemand am Knie.
Ein Mönch in der weißen Kutte der Prädikantenbrüder, mit der schwarzen Kapuze. Sie blickte in ein gelbbleiches, runzliges altes Gesicht - mit eingefallenem langem und schmalem Mund und zwei großen bernsteingelben Augen, die tief in den Höhlen lagen.
„Ist es möglich - bist du es selber, Kristin Lavranstochter!“ Der Mönch legte die gekreuzten Arme auf die Steinmauer und drückte seinen Kopf darauf. „Bist du hier!“
„Gunnulv!“ Da bewegte er den Kopf, so daß er dabei ihre Knie berührte, wie sie so dasaß. „Dünkt es dich so seltsam, daß ich hier bin?“ Da fiel ihr ein, daß sie ja auf der Mauer jenes Hofes saß, der zuerst sein und später ihr eigener Besitz gewesen war, und es dünkte sie dennoch, daß dies seltsam sei.
„Aber was für ein Kind hast du hier auf dem Schoß - das ist doch wohl nicht Gautes Sohn?“
„Nein.“ Bei dem Gedanken an das gesunde süße Gesicht des kleinen Erlend und an seinen kräftigen, wohlgeformten Körper drückte sie das fremde Kind an sich, von Mitleid überwältigt. „Es ist das Kind einer Frau, die mit mir über das Gebirge
ging.“
Da dämmerte es ihr, was Andres Simonssohn in seiner kindlichen Weisheit gesehen hatte. Voller Ehrfurcht blickte sie auf das klägliche Geschöpf in ihrem Schoß hinab.
Jetzt aber weinte es wieder, und sie mußte zunächst den Mönch fragen, ob er ihr zu sagen vermöchte, wo sie ein wenig Milch für das Kind bekommen könnte.
Gunnulv führte sie östlich um die Kirche herum zum Kloster und verschaffte ihr Milch in einer Schüssel. Während Kristin ihr Pflegekind fütterte, redeten sie miteinander, aber die Worte kamen seltsam träge.
„So lange Zeit ist vergangen, und so vieles hat sich seit dem letztenmal ereignet“, sagte sie traurig, „und schwer waren sie wohl zu ertragen, auch für dich, die Nachrichten, die du über deinen Bruder erfuhrst?“
„Gott sei seiner armen Seele gnädig“, flüsterte Bruder Gunnulv erschüttert.
Erst als sie nach ihren Söhnen in Tautra fragte, redete Gunnulv etwas mehr. Mit herzlicher Freude hatte der Konvent die beiden Novizen aufgenommen, die von den besten Geschlechtern des Landes abstammten. Nikulaus schien so herrliche Geistesgaben zu besitzen und machte in Gelehrtheit und Gottesfurcht solche Fortschritte, daß der Abt durch ihn an seinen herrlichen Ahnen und reichbegabten Streiter der Kirche, Bischof
Nikulaus Arnessohn. erinnert wurde. Das war anfangs. Aber einige Zeit nachdem die Brüder eingekleidet worden waren, hatte Nikulaus sich sehr übel betragen und große Unruhe im Kloster hervorgerufen. Gunnulv wußte den Grund nicht genau - sicher war nur das eine: Abt Johannes wollte es nicht gestatten, daß die jungen
Weitere Kostenlose Bücher