Kristin Lavranstochter 2
bis zum Laubwald im Einschnitt, der sich zum See im Talgrund hinabzog. Und nach dem weiten Ausblick über niedrige bewaldete Berge, die, Welle auf Welle, nach Süden zum Dovregebirge dahinwogten. Und nach der Wiese, die im Sommer so üppig hohes Gras trug und rot von roten Blumen unter den roten Abendhimmeln dalag, nach dem Grummet, das im Herbst so saftig grün stand... Ja, es kam vor, daß sie sogar nach dem Fjord selbst Sehnsucht empfand! Die Flußmündung in Birgsi, die Bollwerke mit Booten und Schiffen, die Schiffshütten, der Geruch nach Teer und Netzen und Meereswasser - all das, was sie so wenig gemocht hatte, als sie zum erstenmal nach Norden gekommen war. Erlend, er mußte sich doch wohl nach diesem Geruch und nach dem Meer und dem Meereswind sehnen ...
Sie entbehrte all das, wovon sie einstmals geglaubt hatte, daß es sie ermüde: die große Hofwirtschaft, die Scharen von Dienstleuten, das Dröhnen, wenn Erlends Männer mit klirrenden Waffen und rasselndem Pferdegeschirr auf den Hofplatz einritten - die fremden Leute, die aus und ein gingen und große Nachrichten vom Land draußen und kleine Gerüchte von den Bewohnern in den Tälern und Städten auf den Hof brachten. Jetzt fühlte sie, daß es still geworden war in ihrem Leben, seit all dies verstummt war.
Die Stadt mit Kirchen und Klöstern und Gastgelagen in den Stadthäusern der Reichen ... Sie sehnte sich danach, mit ihrem eigenen Knecht und der Magd, die ihr folgten, durch die Straßen zu gehen, die Buden der Kaufleute aufzusuchen, zu wählen und zu verwerfen, an Bord der Schuten im Fluß draußen geholt zu werden und zu handeln: englische Leinenhüte, feine Schleier, Holzgäule mit Rittern darauf, die mit Lanzen stoßen konnten, wenn man an einer Schnur zog. Sie dachte an die Wiese außerhalb der Stadt bei Nidareid, wie sie mit ihren Kindern dort gegangen war, die abgerichteten Hunde und Bären der fahrenden Leute betrachtet, Honigbrot und Walnüsse gekauft hatte ...
Und sie konnte solche Sehnsucht danach empfinden, sich wieder einmal zu schmücken: ein seidenes Hemd und ein dünnes feines Kopftuch, das ärmellose Sycrotte* aus lichtblauem Samt, das Erlend ihr in dem Winter vor dem Unglück gekauft hatte. Es war mit Hermelinpelz verbrämt, rings um den tiefen Aus-
* Frauenüberrock.
schnitt im Mieder und um die weiten Armlöcher, die bis auf die Hüften hinabreichten, so daß man den Gürtel darunter sah.
Und dazwischen sehnte sie sich - ach nein, sie mußte doch vernünftig sein und sich darüber freuen, sich freuen, solange es ihr erspart blieb, noch mehr Kinder zu bekommen. Als sie hier im Herbst nach dem Großschlachten krank wurde - es war doch am besten, daß es so kam, wie es dann kam. Aber sie hatte ein wenig darüber geweint, die ersten Nächte danach ...
Denn es dünkte sie so ewig lange her, seit sie einen Säugling gehabt hatte. Munan war erst vier Winter alt - aber sie hatte ihn, noch ehe er ein Jahr alt war, in die Hände fremder Menschen geben müssen. Und als sie ihn zurückbekam, konnte er schon gehen und sprechen und kannte sie nicht.
Erlend. O Erlend! Sie wußten in ihrem Innersten genau, er war nicht so - gleichgültig, wie er sich gab. Er, der ewig Unruhige - jetzt war er so, als sei er stets ruhig. Wie ein Wasserlauf, der zum Schluß gegen eine steile Bergwand stößt, sich zur Seite zwingen läßt und ins Moor hinaus zu einem stillen Teich mit Torfgrund ringsherum versickert. Er lebte auf Jörundhof so dahin, tat nichts und ließ sich bald von dem einen, bald vom andern seiner Söhne im Nichtstun Gesellschaft leisten. Oder er zog mit ihnen auf die Jagd. Es kam vor, daß er wegging und eines der Boote teerte und ausbesserte, die sie im Gebirge drinnen auf den Fischwassern besaßen. Oder er gab sich damit ab, eines der jungen Pferde zu zähmen. Aber damit hatte er nie Glück - er war viel zu ungeduldig.
Er ging für sich allein und tat jedenfalls so, als merke er nicht, daß niemand seine Gesellschaft aufsuchte. Die Söhne machten es wie der Vater. Beliebt waren sie nicht, diese von draußen Hergekommenen, die ein Mißgeschick in dieses Tal getrieben hatte und die nun hier umhergingen, immer noch gleich hochmütig und fremd, die nie nach den Sitten des Tales und den Leuten des Tales fragten. Ulv Haldorssohn war geradezu unbeliebt - er sprach ganz offen in höhnischem Ton über die Talbauern, nannte sie dumm und weltfremd; Leute, die nicht an einem Meeresstrand aufgewachsen waren, waren keine Leute.
Und sie selber - sie
Weitere Kostenlose Bücher