Kristin Lavranstochter 2
der Dunkelheit an. Kristin schlug mit der Hand nach ihnen, während sie dahineilte, auf dem glatten Nadelteppich ausglitt und ihren Fuß an die gewundenen Wurzeln stieß, die sich über ihren Pfad buchteten.
Es gab einen Traum, der Kristin seit vielen Jahren verfolgte. Zum erstenmal hatte sie ihn in jener Nacht, ehe Gaute geboren wurde, aber immer noch geschah es, daß sie schweißtriefend erwachte, mit einem Herzen, das so laut hämmerte, als sollte es sich in der Brust zu Tode pochen, und dann war es immer derselbe Traum gewesen.
Sie sah eine Blumenwiese - einen steilen Hang tief drinnen im Tannenwald, der die Wiese dunkel und dicht auf drei Seiten umschloß, aber zu Füßen dieses Hanges spiegelte ein kleiner Teich den düsteren Wald und die grüne gefleckte Lichtung wider.
Die Sonne stand hinter den Bäumen - zuoberst am Hang sickerte das letzte goldene Abendlicht in langen Strahlen durch das Geäst herab, und auf dem Grund des Teiches schwammen leuchtend von der Abendsonne beschienene Wolken zwischen den Seerosenblättern.
Mitten am Hang, tief zwischen Pechnelken und Butterblumen und ganzen Wolken von dem grünlichweißen Blumenmeer der Engelwurz, sah sie ihr Kind. Als sie dies zum erstenmal träumte, mußte es wohl Naakkve sein - damals hatte sie nur die beiden Ältesten, und Björgulv lag noch in der Wiege. Später wußte sie nie genau, welches ihrer Kinder es wohl sein könnte -das kleine runde und sonnverbrannte Gesicht unter dem rings beschnittenen goldbraunen Haar schien ihr bald dem einen, bald dem anderen ihrer Söhne zu gleichen, stets aber war das Kind im Alter von zwei bis drei Jahren und trug solch einen dunkelgelben Kittel, wie sie ihn ihren kleinen Jungen für werktags zu nähen pflegte: aus heimgewebter Wolle, mit Flechte gefärbt und mit roten Bändern eingesäumt.
Sie selbst glaubte sich bisweilen auf der anderen Seite des Teiches zu befinden. Oder sie war überhaupt nicht an dem Ort, wo dies geschah, sah aber trotzdem alles.
Sie sah, wie ihr kleiner Sohn dahin und dorthin ging und sein Gesicht bald nach links, bald nach rechts wandte, während er die Blumen abriß. Und obgleich ihr Herz von einer dumpfen Angst bedrückt wurde, von einem Vorboten des Unglücks, das geschehen sollte, so überfiel sie doch mit diesem Traum zuerst stets eine übermächtige schmerzliche Süßigkeit, während sie das holde Kind dort auf der Wiese betrachtete.
Dann wird sie gewahr, wie sich aus dem Dunkel oben am Waldrand ein lebender zottiger Klumpen loslöst. Er bewegt sich lautlos, es glimmt in zwei winzigen bösen Augen auf. Der Bär kommt bis dicht an die Wiese heran, steht da und bewegt Kopf und Schultern hin und her, wittert bergabwärts. Dann springt er. Kristin hat noch nie einen lebenden Bären gesehen, aber sie weiß, daß sie nicht so springen; das ist kein richtiger Bär. Dieser hier springt wie eine Katze, im selben Augenblick wird er
grau - wie eine helle zottige Riesenkatze fliegt er in langen weichen Sätzen den Hang hinunter.
Die Mutter befällt tödlicher Schrecken, und sie kann nicht dorthin gelangen, wo der Kleine ist, um ihn zu retten; sie kann ihn nicht mit einem Laut warnen. Da wird das Kind gewahr, daß irgend etwas da ist; es wendet sich halb um und blickt über die Schulter zurück. Mit einem entsetzlichen kleinen leisen Schreckenslaut versucht es bergab zu laufen, hebt auf die Art kleiner Kinder die Beine in dem hohen Gras hoch auf, und die Mutter hört deutlich, wie die saftigen Stengel mit leisem Knacken platzen, während das Kind durch den dichten Blumenflor hindurchläuft. Dann stolpert es über irgend etwas drinnen im Gras, fällt der Länge nach hin, und im nächsten Augenblick liegt das Ungeheuer mit gekrümmtem Rücken und den Kopf tief zwischen den Vordertatzen über ihm. Dann erwacht sie ...
Und jedesmal blieb sie stundenlang wach liegen, bevor es ihr etwas half, daß sie sich vorsagte, es sei doch nur ein Traum gewesen! Dann zog sie ihr jüngstes Kind, das zwischen ihr und der Wand lag, eng an sich - dachte sich aus, was sie hätte tun können, wenn es nun wirklich so gewesen wäre, wie sie das Tier mit Schreien oder mit einem Prügel hätte verscheuchen können und daß an ihrem Gürtel stets ein langer scharfer Dolch hing.
Und während sie sich selbst so zu beruhigen suchte, brach es von neuem wieder über sie herein, diese unerträgliche Pein, wie sie im Traum so ohnmächtig dastand und die armselige vergebliche Flucht ihres Kindes vor dem unerbittlich raschen und
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