Kristin Lavranstochter 2
dahingelebt hatten, Tag für Tag dem Tode entgegen, hatten sie doch ihre Bürde zu tragen vermocht, und zwar nicht deshalb, weil sie ihre Kinder weniger liebten, sondern weil sie ihre Kinder mit einer besseren Liebe liebten. Und sollte sie nun ihren Kampf so enden sehen? Hatte sie in ihrem Schoß eine Schar unruhiger junger Habichte gehegt, die nur im Nest lagen und ungeduldig auf die Stunde warteten, da ihre Schwingen sie über die fernsten Berge hinwegtragen würden? Und ihr Vater schlug nur die Hände zusammen und lachte: Fliegt, fliegt, ihr meine jungen Vögel...
Blutige Stücke ihrer Herzwurzeln würden sie mit sich reißen, wenn sie wegflogen, und sie würden sich dessen nicht bewußt sein. Und sie sollte allein Zurückbleiben und hatte alle die Herzwurzeln, die sie einstmals an ihr altes Heim gebunden hatten, selbst zerrissen. Dies mußte so enden, daß sie weder leben noch sterben konnte ...
Sie wandte sich um, sprang stolpernd über den bleichen dürren Teppich von Renntierflechte, den Umhang dicht um sich gezogen, denn es war so unheimlich, wenn er sich in den Zwei-gen verfing. Schließlich gelangte sie auf die kleinen Wiesen hinaus, die ein wenig nördlich der Bauerngildenhalle und der Kirche lagen. Sie schritt über das Land dahin, da erblickte sie einen Menschen auf dem Weg. Er rief: „Bist du es, Kristin?“ Sie erkannte ihren Mann.
„Du bliebst lange aus“, sagte Erlend. „Es ist schon Nacht, Kristin. Ich bekam Angst um dich.“
„Bekamst du Angst um mich?“ Ihre Stimme klang härter und hochmütiger, als es ihre Absicht war.
„Nicht gerade Angst. Aber ich dachte doch, daß ich dir entgegengehen sollte.“
Sie sprachen beinahe nichts, während sie talabwärts schritten. Als sie auf den Hofplatz kamen, war alles still. Ein paar Pferde gingen grasend zwischen den Häusern umher, aber die Leute waren alle zu Bett.
Erlend trat geradeswegs auf das Haus zu, in dem sie schliefen, Kristin aber lenkte ihre Schritte zum Küchenhaus. „Ich muß noch etwas nachsehen“, antwortete sie auf seine Frage.
Er stand oben und lehnte sich über das Geländer, auf seine Frau wartend, dann sah er sie mit einer Kienfackel in der Hand aus dem Küchenhaus herauskommen und zur Feuerstube hinübergehen. Erlend wartete eine Weile - dann lief er hinunter und folgte Kristin ins Haus.
Sie hatte ein Licht angezündet und es auf den Tisch gestellt. Erlend fühlte sich von einem seltsamen Schauer durchbebt, als er sie bei der einsamen Kerze in dem leeren Haus stehen sah -nur das in den Boden eingelassene Wohngerät war in dieser Stube zurückgeblieben, und das abgenützte Holz leuchtete im Lichtschein nackt und leer. Die Feuerstätte war kalt und rein gefegt, nur die Kienfackel, die Kristin hingeworfen hatte, glühte dort noch. Erlend und Kristin benutzten diese Stube nicht, und es war wohl ein halbes Jahr her, seit hier Feuer gebrannt hatte. Die Luft war seltsam bedrückend; es fehlten die vielen gemischten lebendigen Gerüche, die das Leben und Treiben der Menschen mit sich bringt. Und Rauchloch und Türe waren die ganze Zeit her nie geöffnet worden, deshalb roch es hier nach Wolle und Fellen. Einige zusammengerollte Pelze und Säcke, die Kristin aus dem Vorrat im Dachraum ausgeschieden hatte, lagen auf dem leeren Bett aufgestapelt, das einstmals Lavrans’ und Ragnfrids Bett gewesen war.
Auf der Tischplatte lag eine Menge kleiner Knäuel: Näh-faden und Stopfgarn, aus Leinen und Wolle, die Kristin nach dem Färben beiseite geräumt hatte. Nun stand sie da und machte sich mit ihnen zu schaffen.
Erlend nahm im Hochsitz am Tischende Platz. Seltsam geräumig wirkte der Sitz um den schlanken Mann, nun, da Kissen und Decken fehlten. Die beiden Olavskämpen mit den kreuzgezierten Helmen und Schilden, die Lavrans als Pfosten zum Hochsitz geschnitzt hatte, schielten gedrückt und unfreundlich unter Erlends schmalen braunen Händen hervor. Niemand konnte Laubwerk und Tiere schöner schnitzen als Lavrans, aber Menschenbildnisse hatte er nie sonderlich gut zuwege gebracht.
Es war lange Zeit so still zwischen ihnen, daß man nichts hörte als die dumpfen Schläge draußen auf der Wiese, wo die Pferde in der Sommernacht weideten.
„Willst du nicht bald schlafen gehen, Kristin?“ fragte er schließlich.
„Willst nicht du gehen?“
„Ich wollte auf dich warten“, erwiderte der Mann.
„Ich habe noch keine Lust, hinaufzugehen - ich kann nicht schlafen ...“
„Was liegt dir denn so schwer auf dem Gemüt, Kristin, daß
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