Krokodil im Nacken
zurücktransportiert, hatte er in dieser Zelle für kurze Zeit aufgeatmet. Welch ein Luxus! Etwa dreieinhalb mal zweieinhalb Meter Raum, hell gestrichene Ölsockelwände, Linoleumfußboden, Neonröhre an der Decke! Links von der Tür ein sauberes Spülklosett, gleich daneben ein Waschbecken mit fließend kaltem und warmem Wasser, zwischen den beiden Holzpritschen mit jeweils drei aufeinander gestapelten Matratzenteilen und zwei Stoffdecken ein schmaler Gang zum Auf- und Abgehen. In Bulgarien war den Untersuchungshäftlingen nicht so viel »Komfort« zugebilligt worden.
Noch immer die Hände auf dem Rücken, trat er an die fenstergroße Mauer aus Glasziegelsteinen. Was für eine Schikane! Nirgendwohin darf dein Blick schweifen; kein Stückchen Himmel, kein anderes Zellenfenster sollst du zu sehen bekommen. Klappe zu, Affe tot; hier bist du eingesperrt wie der Maikäfer in der Zigarrenkiste.
Über den Glasziegelsteinen befand sich eine ins Mauerwerk eingelassene Belüftungsklappe. Lenz hatte sie die ganze Nacht und auch den Vormittag über offen gelassen, so sehr hatte es ihn nach frischer Luft gedürstet. Jetzt schloss er sie.
Unterhalb der Glasziegelsteine, hinter einem engmaschigen Gitter, war ein Heizkörper angebracht. Davor standen ein schmales Tischchen und zwei Hocker, alles mit gelbem Kunststoff bezogen. Er setzte sich auf einen der Hocker, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände und blieb lange so sitzen. Bis er es irgendwann nicht mehr aushielt, aufsprang und erneut in der Zelle auf und ab zu laufen begann. Acht kurze Schritte hin, acht kurze Schritte zurück; vom Tischchen unterhalb der Glasziegelsteine bis zur Tür und von der Tür zurück zum Tischchen.
2. Zwölf Uhr mittags
S ie waren am Abend losgefahren. Nachmittags hatte Lenz, um Zeit und Nervosität totzuschlagen, im Fernsehen noch die Eröffnung der Münchener Olympiade mitverfolgt, nach dem Abendessen hatten sie die Tür hinter sich abgeschlossen. Das hatte wehgetan, denn es hatte für immer sein sollen. Die Kinder aber waren stolz. So spät am Abend gingen sie noch auf eine so weite Reise? Sie hatten gelacht und gestrahlt.
Auf dem Ostbahnhof wartete schon der Expresszug. Die Familie Lenz, die so dicht an der Grenze nach WestBerlin wohnte, dass der eine oder andere westliche Schornstein zum Greifen nah erschien, trat eine Reise durch halb Europa an – nur um auf die andere Seite dieser Grenze zu gelangen? Ein Umweg, über den sie sich zuvor oft lustig gemacht hatten, der ihnen aber nun ein wenig unheimlich vorkam. Immer wieder mussten sie einander Mut machend zulächeln.
Durchs sommerlich warme, im Abendrot dämmernde Berlin, das mitternächtliche Dresden, das frühmorgendliche Prag und das schon am Vormittag schwülheiße Budapest ging es und danach lange an der lehmig braunen Donau entlang. Bis sie endlich Bukarest erreicht hatten. Hier, in dieser staubig-trockenen, ihnen mal grau und trübe und mal licht und warm erscheinenden Stadt hatten sie mehrere Stunden Aufenthalt; Zeit, die sie nutzten, um durch viele ärmlich wirkende, zumeist jedoch sehr belebte Straßen und über bemitleidenswert karge Marktplätze zu spazieren, den Kindern Eis und Limonade zu kaufen und vor der Weiterfahrt im Bahnhofsrestaurant etwas Warmes zu essen. Am Abend bestiegen sie dann den Zug nach Burgas; eine zweite Nachtfahrt lag vor ihnen.
In Russe kontrollierten erst rumänische, dann bulgarische Grenzbeamte ihre Papiere. Auf die Frage »Wohin?« machte Lenz beide Male nur Schwimmbewegungen. Es wurde gelacht: Ja, Sommer, Sonne, Strand – Ferien! Und natürlich wurden Silke und Micha gestreichelt, die, aus dem Schlaf geweckt, eher mürrische Gesichter machten. Ihre Begeisterung über die weite Reise war längst verflogen.
Bei der zweiten Kontrolle, als die bulgarischen Grenzbeamten ihre Papiere durchblätterten, kam Lenz der erste Verdacht: Ließen diese beiden Laurel-und-Hardy-Typen sich nicht etwas zu viel Zeit? Studierten sie ihre Gesichter nicht viel aufmerksamer als notwendig? Wiederholten sie ihre Namen nicht ein paar Mal zu oft?
Er beruhigte sich damit, dass ja noch nichts passiert war. Sie machten Ferien an der Schwarzmeerküste; wohin sie am Ende weiterreisen würden, stand ihnen nicht ins Gesicht geschrieben. Sie wussten ja selbst noch nicht, ob sie tun würden, was sie vorhatten.
Zwölf Uhr mittags waren sie in Burgas. Highnoon am Schwarzen Meer! Silke und Micha, die sich für Berge und Landschaften längst nicht mehr
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