Krokodil im Nacken
Silke und Michael bereits bei ihnen waren. Ein nachträglicher Schock. Immerhin hatte auch Lenz’ Bruder seine Einwilligung zur Ausreise der Kinder geben müssen.
Silke und Michael litten lange unter der zweijährigen Trennung von ihren Eltern, obwohl auch sie die angenehmen Seiten eines etwas freieren Lebens bald entdeckten. Silke: »Mami, Mami, hier darf ich im Sportunterricht anziehen, was ich will.« Micha, der noch ein Jahr DDR-Schulsystem kennen gelernt hatte: »Hier sind die Lehrer nicht so streng.« Spätere Besuche in OstBerlin ließen ein tieferes Verständnis für die Verzweiflungstat ihrer Eltern wachsen.
Lenz’ Wunsch, sich schreibend äußern zu dürfen, ging in Erfüllung. Bereits nach kurzer Zeit wurden erste Texte von ihm veröffentlicht. Auf Lesungen allerdings passierte es ihm immer wieder, dass er den Staat, den er verlassen hatte, gegen allzu unberechtigte Kritik aus dem schlecht informierten bundesdeutschen Publikum verteidigen musste. »Geh doch nach drüben«, bekam er dann manchmal zu hören. Andererseits traf er Bundesbürger, die nur zu Kurzbesuchen in der DDR gewesen waren, sich das positive Bild, das sie dort gewonnen hatten, aber durch nichts und niemanden trüben lassen wollten.
1988, nach fünfzehnjährigem Leben und Arbeiten im Rhein-Main-Gebiet, zogen Hannah und Manfred Lenz nach WestBerlin, 1989 fiel die Mauer, 1990 wurde die Stadt wieder vereinigt. 1994besuchten sie zum ersten Mal die inzwischen zur Besichtigung freigegebene ehemalige Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Sie setzten sich in ihre ehemaligen Zellen und in die Vernehmungsräume, in denen noch alles Mobiliar und sogar Uniformteile der Wachmannschaften vorhanden waren, und ein Alptraum zerstob. Zorn und Trauer aber blieben erhalten.
Im Jahr darauf erhielten sie Einsicht in ihre Stasi-Unterlagen. Seither wissen sie, dass keiner ihrer Kollegen, Freunde oder Bekannten sie bei der Stasi angeschwärzt hatte. Im Gegenteil, die meisten, die um eine Charakterisierung des Ehepaars Lenz gebeten worden waren, hatten sich, wohl in der Absicht, ihnen damit zu helfen, übertrieben positiv geäußert.
In einer der Akten stießen sie auf den Namen ihres Vernehmers, im Telefonbuch fanden sie seine Anschrift. Sein Titel verriet, dass er sich noch immer mit dem Rechtswesen beschäftigte. Aufgesucht haben sie ihn nicht.
Wer sie denunziert hatte, wissen Hannah und Manfred Lenz bis auf den heutigen Tag nicht. Soweit aus den vorhandenen Unterlagen ersichtlich, wurde das Ministerium für Staatssicherheit durch eine Quelle (Tarnbezeichnung »Fliege«) der Hauptabteilung II informiert – der so genannten »Spionageabwehr«, was vermuten lässt, dass der Tipp aus dem Westen kam. Fortan wurde das Ehepaar Lenz durch die Stasi observiert und – höchstwahrscheinlich – durch in ihrer Wohnung untergebrachte Wanzen abgehört.
Klaus Kordon
© Ute Karen Seggelke
Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen zum Teil internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg. Bei Beltz & Gelberg erschienen von Klaus Kordon u.a. die beiden Indien-Romane Monsun oder Der weiße Tiger und Wie Spucke im Sand, Der Weg nach Bandung, Ein Trümmersommer, Hundert Jahre und ein Sommer , Julians Bruder, die »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling sowie 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder und zuletzt Fünf Finger hat die Hand.
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