Krokodil im Nacken
in OstBerlin flüchteten und die beiden deutschen Staaten einen Weg finden mussten, diesen dem DDR-Staat abgepressten Ausreisen einen offiziösen Anstrich zu geben.
Die Beträge, die die Bundesrepublik für den einzelnen freigekauften Häftling zu entrichten hatten, bewegten sich anfangs zwischen vierzig- und achtzigtausend D-Mark; je nach beruflicher Qualifikation des Häftlings. Später wurde eine Pauschale von je neunzigtausend D-Mark pro Häftling ausgehandelt.
Erst ein Jahr nach der Ausreise von Hannah und Manfred Lenz, im August 1974, durften die Kinder nachfolgen. Dies trotz aller anders lautenden Zusagen. Zu einem ersten Wiedersehen zwischen Eltern und Kindern aber kam es bereits im Oktober 1973.
Sechs Wochen nach ihrer Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und gegen die Empfehlung der Rechtsanwälte, den östlichen Teil Deutschlands vorläufig zu meiden, hielten Hannah und Manfred Lenz die noch immer andauernde Trennung von ihren Kindern nicht länger aus und besuchten sie im OstBerliner Kinderheim. Eine Überrumpelungsaktion, denn sie wählten ein Wochenende für ihr überraschendes Erscheinen. Weder das Ministerium für Staatssicherheit noch die Leitung des Kinderheims hatte mit einem solchen Besuch gerechnet. So wurde ihnen, den nun westdeutschen Bürgern, wohl weil ihre Namen datenmäßig noch nicht erfasst waren, der Grenzübertritt gestattet, und die Heimleitung, die keine übergeordnete Dienststelle erreichen konnte, erlaubte die »Kontaktaufnahme«.
Zwei Tage lang hatten die zehnjährige Silke und der Erstklässler Michael ihre Eltern zurück; die Hoffnung der Kinder, sie würden endlich abgeholt, mussten Hannah und Manfred Lenz jedoch enttäuschen. Sie konnten sie nur mit ihrem baldigen Wiedervereintsein trösten, glaubten sie doch noch immer, dass die Kinder bis spätestens Weihnachten 1973 bei ihnen sein würden.
Den Leiter dieses Kinderheims kannte Lenz. Er war einst Hausleiter im Kinderheim Königsheide.
Eine Erzieherin des Heimes nahm Hannah Lenz in einem unbeobachteten Moment zur Seite und flüsterte ihr zu, sie solle sich um ihre Kinder keine Sorgen machen; sie habe viel Verständnis für ihren Schritt. Worte, die Hannah und Manfred Lenz ihre Rückkehr nach Frankfurt am Main ein wenig erleichterten.
Als die Kinder Weihnachten 1973 noch immer nicht bei ihren Eltern waren, flog Lenz mehrmals nach WestBerlin, um über das Rechtsanwaltbüro Stange Erkundigungen einzuholen. Man riet zur Geduld, die Ausreise der Kinder sei beantragt, der Antrag durchlaufe die zuständigen Instanzen.
Weitere Heimbesuche allerdings wurden Hannah und Manfred Lenz untersagt. Nachdem sie ihre Eltern wiedergesehen hatten, sei bei Silke und Michael ein aufsässiges Verhalten bemerkt worden, wurde ihnen über Lenz’ Bruder mitgeteilt. Für Hannah und Manfred Lenz trotz der andauernden Trennung eine frohe Botschaft: Ihre Kinder reagierten auf eine unnormale Situation völlig normal; sie wussten wieder, dass sie nicht allein waren.
Doch auch wenn weitere Heimbesuche gestattet worden wären, hätten Hannah und Manfred Lenz ihre Kinder im zweiten Jahr ihrer Trennung voneinander nicht besuchen können: In den folgenden zehn Jahren wurden sie jedes Mal, wenn sie während ihrer häufigen Berlin-Aufenthalte versuchten, in den Ostteil der Stadt zu gelangen, von den DDR-Grenzern als unerwünschte Personen zurückgewiesen.
Als die Kinder den Eltern endlich nachfolgen durften, musste Hannah allein nach OstBerlin fahren, um sie abzuholen. Lenz, wieder im Export tätig, hatte eine Dienstreise nach Rumänien anzutreten; eine Reise, die er in Erwartung der Ankunft der Kinder von Monat zu Monat verschoben hatte. Eine weitere Verlegung des Termins war nicht möglich. Es sei denn, er hätte in der Firma, in der er beschäftigt war, die Wahrheit über seine Vergangenheit gesagt. Da er nach seiner Entlassung aus der Haft aber die Erfahrung gemacht hatte, dass bundesdeutsche Firmen ihn wegen seiner Haftzeit in der DDR nicht einstellten, hatte er, um endlich Arbeit zu finden, zuletzt angegeben, im Zuge einer Familienzusammenführung in die Bundesrepublik gelangt zu sein.
Gesetze sind Gesetze, hatte man in den Firmen, die seine Bewerbung ablehnten, wohl gedacht; wer sie dort nicht einhält, hält sie auch hier nicht ein.
Dass die DDR-Behörden in manchen Fällen Kinder von in die Bundesrepublik ausgereisten Ehepaaren zur Adoption freigaben, um sie in der DDR behalten zu können, erfuhren Hannah und Manfred Lenz erst, nachdem
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