Kronhardt
Engel.
Aus der Wut kamen Gisela Tränen.
Gut so, mein Engel. Laà es raus. Dann massierte sie wieder und summte dazu.
Nach einer Zeit sagte sie: Sie sind nichts hier. Und drauÃen kann ich Ihnen alles versperren. Den Weg aus dem Elternhaus, und noch Ihre Kinder kann ich Ihnen wegfressen. Schlimm sieht das aus. Ganz schlimm.
Dann summte sie wieder.
Gisela hielt die Hände geballt, ihre Nägel schnitten ins Fleisch.
Andererseits Berlin. Kleine, schicke Bude. Taschengeld und Hasch und Partys mit den angesagten Leuten.
Wars das!
Alles zum Greifen nah.
Ich möchte gehen!
Und die Frau lachte. Zurück zum Vater. Von der Mutter ist ja nichts mehr zu erwarten.
Gisela spuckte aus.
Und in einer Bewegung drehte die Frau den Stuhl und zog das Mädchen hoch.
Deine Zukunft, verdammt!
Giselas Vater ging stramm und mit rotem Kopf durchs Polizeihaus. Er hielt seine Tochter am Arm wie eine Gefangene. Als sie drauÃen waren, rià Gisela sich los und lief davon.
Schlosser war dafür, die Sache ernst zu nehmen. Wenn diese Leute auftauchen, sagte er, muà man mit allem rechnen. Diese Leute haben unglaubliche Möglichkeiten und werden von ganz oben gedeckt. Egal, ob es um Technik geht, Gesetze oder Moral. Diese Leute operieren aus einer Wirklichkeit heraus, die jenseits der Alltagsvorstellungen liegt. Und sobald man in ihr Visier gerät, hört alle Alltagswelt mit ihren Zufällen und Unwahrscheinlichkeiten auf. Diese Leute, sagte er, bringen neue Dimensionen mit. Die operieren mit allem, was ein Staat an Möglichkeiten hergibt. Die Bündelung sämtlicher Disziplinen. Das gesamte Schwarzbuch der menschlichen Geschichte, und obendrauf immer den neusten Top-Secret-Mist. Und plötzlich ist nichts mehr unmöglich, nur weil es unwahrscheinlich scheint. Besser also, man fängt gleich damit an, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Mit Staatsaugen, sagte er, und mit diesen Augen gibt es keinen Frieden und keine Liebe, sondern nur Subjekte, die sich zu schädlichen Strukturen vernetzen â egal, ob sies tatsächlich tun oder nicht. Denn mit Staatsaugen verändert sich alles â Tatsachen und Fiktion werden eins, die Wirklichkeit wird beliebig ausgehebelt und neu installiert. Mit Staatsaugen ist jedes Mittel recht, und so muà man die Welt sehen, wenn die einen plötzlich im Visier haben. Muà ihnen ständig die perfidesten Absichten und Handlungen unterstellen, und das auf allen Ebenen. Denken, sagte er, als wäre man selbst der Staatskopf.
Gisela hielt das für übertrieben. Da kann man ja nichts und niemandem mehr trauen, da wird man ja paranoid.
Andererseits, meinte Schlosser, ist man aber noch längst nicht aus dem Schneider, nur weil man sich weigert, paranoid zu sein.
ScheiÃe! Ich marschier doch nicht gegen das kranke System und laà mich dann von hintenrum reinziehen.
Quatsch. Reinziehen lassen ist doch gar nicht mehr nötig. Man steckt ja seit jeher drin im System. Ob man will oder nicht.
ScheiÃe! sagte Gisela. Du hast nichts begriffen!
Ohne Systeme läuft nichts mehr. Nirgendwo. Und noch wenn du für die Sache kämpfst, gehört das zum System.
Das ist doch krank.
Schlimmer, sagte Schlosser. Alles, was es an Wahnvorstellungen gibt, ist längst in der Wirklichkeit installiert. Feste Brocken aus der Geschichte, Flimmer aus der Zukunft, und sobald sie dich im Visier haben, dringen sie damit ein in deine Gegenwart.
Das ist doch krank!
Nein, es ist schlimmer. Denn wenn sie dich im Visier haben, interessieren die sich auch für mich. Oder für Willem. Und was werden sie finden? Der eine aus guten Verhältnissen, beim anderen ein paar Hanfpflanzen im Garten und im Haus den versoffenen Vater. Und dann werden sie ruckzuck ihre allmächtige Fürsorge offenbaren; dem einen wird Mittäterschaft im Drogenhandel vorgeworfen, er wird seinen Alten überbracht und kommt zuletzt mit einem blauen Auge davon. Dem anderen wird der Vater entmündigt, seine Geschwister kommen ins Heim und er selbst vor den Jugendrichter.
Gisela sagte nichts.
Nur weil man sich weigert, irgendwas zu glauben, ist man noch lange nicht aus dem Schneider.
Diese Gedanken, sagte Gisela schlieÃlich. Die sind einfach krank.
Na klar. Weil sie aus einem kranken System entstehen. Und solange man in diesem System steckt, ist man angreifbar. Also nutzt es gar nichts, diese Gedanken zu verweigern. Um sich zu schützen, muà man einen Blick entwickeln. Sich
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