Kronhardt
in Staatskopf und Staatskutteln denken. Und noch besser, darüber hinaus. Raus aus dem System.
Doch Gisela wollte sich nicht in dieses kranke System zuerst hinein- und dann wieder hinausdenken. Das koste am Ende so viel Energie und Reinheit, sagte sie, daà die elementaren Dinge auf der Strecke blieben. Freunde, Sex, die Sache. Darauf wolle sie ihre Energie verwenden. Und es war ihr egal, was Schlosser dagegen vorbrachte.
Kurz vorm Abitur wurde Gisela zum Rektor bestellt. Auf dem Weg dorthin kam ihr die groÃe Frau entgegen. Sie lächelte und sagte: Kindchen, und sie sagte: Deine Zukunft, und so schritt sie vorüber und zog ihren Duft.
Der Rektor saà in seinem obligaten Herrenzimmer. Zwischen den wuchtigen Bücherregalen kämpfte ein stolzer Klipper.
Gisela sagte: Daà Sie mit dem Verfassungsschutz unter einer Decke stecken, war ja klar.
Ihre Worte schienen den Mann nicht zu interessieren. Er bot Gisela keinen Stuhl an und kam gleich zur Sache. Zugegeben, sagte er. Ihre Leistungen in diesem Halbjahr sind recht ordentlich. Doch das Kollegium ist einhellig der Meinung, daà die Leistungen aus den Vorjahren damit nicht aufgefangen werden können. Bei allem Humanismus am Alten Gymnasium, und der Rektor machte eine Geste. Das Kollegium wird Ihnen die Zulassung zum Abitur verweigern.
Gisela lächelte plötzlich. Es gibt doch sicher noch einen Weg, das Kollegium gewogen zu machen.
Der Rektor sagte nichts.
Sie gewogen zu machen, werter Herr Direktor, und auch die geschätzte Frau Albany.
Der Rektor sagte nichts.
Und Gisela rià ihre Bluse auf und fegte alle Ordnung vom Schreibtisch. Du faschistischer Hurenbock!
Als sie bei Macciavelli saÃen, weinte sie. Und wenn sie ihre Fäuste öffnete, erschienen in den Handflächen die blutigen Kerben ihrer Fingernägel.
Willem und Schlosser sahen einander an. Sie glaubten, daà man Gisela die Zulassung zum Abitur nicht so einfach verweigern könne. Zur Not müsse man eben einen Anwalt fragen oder gleich den Bildungssenator, und solange das nicht geklärt sei, solle Gisela weitermachen, als wäre nichts geschehen.
Willem bestellte noch eine Runde Espresso, und Gisela lag in Schlossers Armen. Sie hatte die Augen geschlossen, und nach einer Zeit sagte sie, daà sie noch heute bei ihren Alten ausziehen werde. Sie habe bereits alles klargemacht und könne bei Freunden unterkommen. Und ob die Jungs ihr helfen würden, ein paar Sachen rüberzuschaffen.
Sie fuhren mit der StraÃenbahn, und hinter den Scheiben zogen neue Bürgersiedlungen vorüber; Mehrfamilien- und Reihenhäuser, überall saubere Vorgärten und Eingänge.
Von der Haltestelle war es nicht mehr weit. Ein Plattenweg, Haus Nummer 14 , siebte Tür rechts, geriffeltes Glas. Alles in Ordnung und so überschaubar, daà es in Ordnung bleiben muÃte.
Noch bevor sie den Schlüssel abgezogen hatte, kam die Feldwebelstimme: Gisela!
Sie zog die Jungs hinein und schickte sie die Treppe hoch.
Gisela! Eine Tür sprang auf, und der Feldwebel stand im Flur.
Von oben ahnten die Jungs, wie Vater und Tochter einander ansahen. Plötzlich rief Gisela: Ich kann sie riechen! Diese Frau stinkt! Und sie lief am Vater vorbei ins Wohnzimmer.
Die Jungs tauschten einen Blick. Dann stiegen sie wieder hinab und warteten im Flur.
Die groÃe Frau saà im Sessel und unterhielt sich mit Giselas Mutter.
Albany, verdammt!
Die Frau schien überrascht.
Mein Engel, sagte die Mutter. Doch sie hielt Giselas Blick nicht aus, und ihre Stimme brach.
Die Frau stand auf. Sie trug ein strenges Kostüm und reichte Gisela die Hand.
Gisela ignorierte die Hand.
Ihr Vater schnappte; das Fleisch in seinem Gesicht war rot und zitterte.
Helfen, mein Engel. Sie will dir helfen. Dann brach die Stimme der Mutter erneut.
Gisela lief aus dem Wohnzimmer. Aus ihrem Zimmer holte sie nur das Notwendigste. Als sie wieder herunterkam, stand ihre Mutter am Treppenabsatz. Mein Engel! Und mit ihrem Blick flehte sie die Tochter an. Doch Gisela verlieà mit den Jungs das Haus.
Am nächsten Morgen betrat der Rektor das Klassenzimmer und bat Gisela mitzukommen. Nach dem Unterricht wurde Schlosser gebeten, ihre Sachen einzupacken.
Die Jungs fuhren zuerst zu Giselas Freunden. Sie bewohnten eine ganze Etage in einem ehemals groÃbürgerlichen Haus, das im Zuge einer Quartierssanierung abgerissen werden sollte. Parolen waren an die Wände gemalt, gelbe Sturmlaternen hingen
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