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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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alte Kategorien aufzubrechen. Und solange die vermeintlichen Erneuerer mit den gleichen Methoden arbeiteten wie die Alten, würde er skeptisch bleiben. Agitation oder Propaganda, sagte er, Ho Chi Minh oder Heil, wo ist da der Unterschied? Die Masse bleibt schließlich ein gelenktes Organ, und da ist es egal, ob Kapitalfaschisten dahinterstecken, Sozialisten oder Hippies. Sie alle gehen ständig ran, um in der Masse oder mit der Masse etwas zu erreichen. Sie alle verweigern dem einzelnen sein Recht auf Selbstbestimmung, und schlimmer: seine Einzigartigkeit. Und so bleibt die Masse zuletzt nur Instrument, und diese wie jene machen sich die Masse zu eigenen Zwecken nutzbar. Der einzelne, sagte Schlosser, als konsequenter Ausdruck von Vielfalt und Respekt bleibt dabei immer auf der Strecke.
    Doch Gisela marschierte weiter. Und durch das Megaphon schwangen ihre Worte auf zu mächtigem Gesang, schlugen hoch wie die in Flammen stehenden Warenhäuser, und im Jargon hieß das jetzt: für die Sache kämpfen.
    Anstatt also mit den anderen zu marschieren, fuhren die Jungs hinaus. Ins Teufelsmoor, in die Geest oder auf die Wurt, und dann rauchten sie von Schlossers Knaster. Und sie dachten über diese Sache nach. Sex und Drogen als Brecheisen. Dann Brandbeschleuniger in die Ritzen, und in Zukunft das System von Liebe und Frieden. War das die Sache? Oder war es nicht vielmehr Sache, daß Liebe und Frieden die Selbstbestimmtheit des einzelnen voraussetzten?
    Ein Dilemma, meinten die Jungs, aus dem man womöglich nur herauskäme, wenn man sich von der Masse und den wirkenden Mechanismen des Systems so gut es ging fernhielt.
    Zugleich aber erschienen ihnen die Systeme so abgrundtief mit der menschlichen Geschichte verwachsen, daß nur die wenigsten sie an sich hinterfragten. So gingen Willem und Schlosser in ihren Betrachtungen weiter und überlegten, ob sich hinter dem im Grunde abstrakten Konstrukt eines Systems nicht längst eine Eigendynamik entwickelt hatte, eine Art Verhalten der Systeme, so daß die Systeme selber in der Lage wären, sich den Menschen in einer jeweils zeitgemäßen Form anzupassen, auf sie einzuwirken, um aus ihnen jederzeit das fraglose Bewußtsein ihrer eigenen Notwendigkeit hervorzubringen. Und sobald man eines der Systeme aufbräche, käme gleich ein neues hervor und würde stürmisch begrüßt.
    Und so blieben die Menschen jederzeit tief davon überzeugt, ohne ihre Systeme im Chaos zu vergehen. Noch so wunderbare Ideen wie Liebe und Frieden konnten nur entstehen, weil es Systeme gab, die diese Ideen regulierten und dafür sorgten, daß es Ideen blieben. Und so, meinten die Jungs, sei die Menschheitsgeschichte durchwuchert von Systemen, die Massenbewußtsein und Einzelbewußtsein manipulierten, die betäubende Doppelwelten erschufen, in denen jeder glaubte, klaren Kopfes zu sein. Nee, meinten die Jungs. Diese Sache könne ihre Sache nicht sein.
    So saßen sie im Teufelsmoor, in der Geest oder auf der Wurt, während Gisela durch die Straßen zog und für die Sache kämpfte. Während aus aller Welt Bilder von Revolution und Liebe und Frieden in die Wohnzimmer der Alten strahlten.
    Und Gisela marschierte weiter, während Schlosser im Übersee-Museum Artefakte sortierte und Willem die Geschäftskunden vom Bahnhof abholte und bereits wußte, wo mit Tumulten zu rechnen war. Und Gisela fühlte sich wunderbar im Sog der Sache, und wenn sie mit dem Megaphon agitierte, übertrug sich ihre eigene Begeisterung auf die Marschierenden und kam von dort in potenzierter Form zurück.
    Zur großen Maidemonstration trafen sich die Jungs vor dem Dom. Die Türen waren geöffnet, und der Aufstieg in den Südturm kostete fünzig Pfennig. Die schmalen Stufen führten um eine Spindel aufwärts, das Gestein war von der Geschichte blank gewetzt. Als sie den Glockenstuhl erreichten, trieben Gerüche auf, und gegen die Tiefe war Maschendraht gespannt; Tauben gurrten, ein Kadaver lag auf dem Draht. Sie stiegen weiter, und als sie auf der oberen Plattform anlangten, grinsten sie atemlos.
    Der Himmel hinter den Bögen war tiefblau, Wind fuhr herein. Unter ihnen lag die Stadt, und nach Westen hin hatten sie Blick bis weit über die Häfen. Schlosser rollte eine Zigarette, Willem holte den Feldstecher vor.
    Die Schupo stand bereits postiert, und aus der Höhe wirkten die Köpfe mit den glänzenden Tschakos wie in Reihe

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