Kronhardt
von der Decke, und in der Küche standen Propangasflaschen. Giselas Freunde schienen jetzt erst zu frühstücken, wirkten verschlafen oder bekifft und wuÃten nicht, wo sie steckte.
Noch bevor sie in den Plattenweg einbogen, sahen sie die Streifenwagen. Auch ein Leichenwagen mit offener Klappe stand bereit, und vor dem Haus patrouillierte ein Wachtmeister. Rings in den Vorgärten tuschelten die Nachbarn, und als Willem und Schlosser vorbeigingen, verstummten die Gespräche.
Der Wachtmeister war jung, doch alle Frische schien hinter einer bleichen Gesichtsfarbe und kaltem Schweià verschwunden. Nein, er dürfe die Jungs nicht reinlassen, und nein, er dürfe auch keine Auskunft geben. Einmal hörten sie Gisela schreien, und der Polizist drehte sich zur Tür und hielt Stellung. Als nichts weiter geschah, trat er wieder zu den Jungs. Schlosser rollte ihm eine Zigarette. Nun, die Nachbarn wüÃten es ja auch schon: Es gebe einen Toten im Haus und eine Schwerverletzte. Und wenn die junge Frau keine Verwandten habe, sagte der Wachtmeister, sei sie bei der Polizei gut aufgehoben. Man habe da auch seelische Betreuung.
Willem beschloÃ, Doktor Blask zu rufen. Er ging zu den Nachbarn und durfte von dort telefonieren.
Blask erschien ohne gröÃere Verzögerung. Er werde Gisela in seine Praxis bringen; wenn er sie für stabil genug halte, werde er für eine sichere Unterkunft sorgen. Ansonsten werde er sie in ein Krankenhaus einweisen. Und die Polizei war einverstanden.
Giselas Vater war erschossen worden. Ihre Mutter lag noch im Koma; sie hatte keinen Unterkiefer mehr.
Die Polizei rekonstruierte und hatte bereits zwei Annahmen entwickelt. Zum einen, daà die Schüsse auf das Ehepaar von einer dritten, bislang unbekannten Person abgegeben worden waren; zum anderen, daà Giselas Mutter zuerst ihren Mann erschossen und dann sich selbst verfehlt hatte.
Gisela sagte aus, sie habe am Abend der Tat mit ihren Freunden in der Küche diskutiert; zwischendurch sei sie einmal spazierengegangen.
Willem und Schlosser erzählte sie, daà sie aus den Jahren heraus wohl wisse, wie es zu dieser Tragödie gekommen sei. Sie erzählte von dem stets nach innen gekehrten Blick ihrer Mutter und den möglichen Bildern dort, die bald von Pillen und Portwein verstärkt worden waren. Diese Bilder, die wie eingebrannt in der Mutter gewesen waren, weil der Vater über Jahre hinweg noch einen Sohn von ihr gefordert und selber alles dazu gegeben hatte, doch die Mutter nach Gisela nie wieder schwanger geworden war. Diese Bilder, wie der Mann noch der Tochter Schmerz und Wut über den verweigerten Sohn offenbarte und wie er bald mehr Zeit mit den Kameraden verbrachte als mit seiner Familie. Bilder, wie die Mutter und sie gemeinsam unter der Bettdecke kauerten, wie Gisela zum erstenmal gegen den Vater aufbegehrte, sich schlieÃlich ganz gegen ihn stellte und die Mutter zu schwach war, sich mit ihr zu verbünden. Und diese inneren Bilder, sagte Gisela, die sich täglich neu überlagerten und verstärkten, habe die Mutter über Jahre verzerrt gehalten; sie habe in ihrem Rausch gelebt. Bis gestern. Bis sie beim letzten Blick in Giselas Augen wohl das Endgültige dort gesehen hatte.
Und nachdem diese Frau Albany dann gegangen sei und der Vater diese Frau zur Rechtfertigung all seiner Anklagen genommen habe â nachdem der Vater die Mutter wieder einmal erniedrigt und schlieÃlich sein Bier vor dem Fernseher getrunken habe, da habe sie seine Waffe aus dem Schlafzimmer geholt. Sich mit ihrem Port zu ihm gesetzt, mit ihren inneren Bildern, und irgendwann hätten dann wohl diese Bilder an der Stubenwand geklebt. Alles Endgültige und Eingefleischte plötzlich nur noch Schmieren und Placken; der Wille zur Erniedrigung an der Wand, die Kameradschaft und auch der verweigerte Sohn. Ihr ganzes Leben. Gisela war endgültig fort, und dann hatte die Mutter die Waffe gegen sich selbst gerichtet. So saà Gisela und erzählte. Und wenn es nötig war, langten ihr die Jungs Papiertaschentücher.
Doktor Blask quartierte Gisela in eine Pension ein, die unweit seiner Praxis lag, und stellte sie unter seine Beobachtung. Und er unterstützte die Jungs darin, dem Mädchen in diesen ersten traumatischen Tagen beizustehen, nahm ihnen aber das Versprechen ab, sich an feste Zeiten zu halten. So unternahmen sie nachmittags Spaziergänge, meist rüber auf den Teerhof, weil sie dort
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