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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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geschaltet. Eine Präsenz, die jede Richtung der Demonstration vorauszusehen schien, und dahinter, gleichsam im Schutz, versammelten sich die Bürger.
    Die Demonstranten hatten den Wind im Rücken, und elektronisch verstärkte Rufe sowie Sprechgesänge waren zu hören. Doch erst als sie gegen die Vormittagssonne schwenkten und einzogen in das Spalier aus Schupo und Bürgern, wurde der Zug für die Jungs sichtbar. Gisela erkannten sie in erster Reihe, und hinter ihr marschierten Hunderte. Untergehakt und im Gleichschritt, und wenn Gisela ins Megaphon schnurrte, ratterte oder peitschte, schwang sich hinter ihr ein Widerhall auf und drängte durch die Straßenschluchten bis in den Domturm.
    So zogen die Demonstranten; ihre Leiber in Freiheit und Recht verbunden, die Agitation und die sich wiederholenden Gesänge, und so wurden sie flankiert von Schupo und Bürgern. Ein beeindruckendes Bild aus der Höhe, doch tatsächlich verzerrte es sich; die Bürger hinter der Schupo rumorten, und die Demonstranten erschienen den Jungs bald wie Gefangene; eine Präsentation für das aufgebrachte Volk, ein Kesseltreiben, und sogar der Himmel über den Straßenschluchten verdichtete sich und preßte die Spannung wie in einen Fingerhut. Die Bürger schlugen ihre Fäuste in die Luft, Wut entstellte ihre Gesichter. Dann flogen erste Gegenstände, Frikadellen, Bratwurstreste, und schlugen wie eine Entfesselung ein; härtere Gegenstände folgten, und bald bejubelten die Bürger jeden Treffer. Sie wollten mehr, mit der ersten Blutlache steigerte sich ihr Rausch, und hinter den Uniformen erschien dieser Rausch legitim.
    Einen Augenblick lang, der den Jungs aus ihrer Höhe verlangsamt und beinah erstarrt erschien, marschierte der Zug noch. Und im Feldstecher sahen sie die Jesus- oder Ho-Chi-Minh-Bärte, die nackten Brüste für den Weltfrieden, sahen die Plakate voll Frieden und Liebe und APO , und einmal noch schwang sich die Megaphondialektik auf gegen Stamokap und Nazibürger. Dann löste sich der Zug in seiner Ordnung auf; sie fielen aus ihrem Schritt, sie schützten sich gegen einen Treffer, sie kümmerten sich um ihre Verletzten, und die Schupo reagierte mit Trillern. Mit gebündelten Befehlen, Zackigkeit und Perfektion, und jede Bewegung, jeder Stillstand der Demonstranten wurde zum Widerstand. Die Bürger rumorten, die Bürger klatschten, und so nahm die Staatsgewalt ihren Eingriff vor. Sprengte mit Triller und Knüppel, eine Reiterstaffel fiel ein, die Pferde bäumten, ihre Augen kollerten, und was für Bilder plötzlich in den Straßen der Stadt: heruntergestürzte Tschakos, die die Schupo gleichsam kopflos erscheinen ließen, und diese kopflose Polizei gleichsam Symbol für den Angriff gegen den Staat. Was für Bilder, dieser Angriff gegen Freiheit und Ordnung. Bremen, Berlin oder Paris – wie gleichgeschaltet dieser Aufruhr der neuen Generation, wie gleichgeschaltet die staatsgelenkte Züchtigung, der Wille zum Alten. So knüppelte es, die Pferde schäumten, und Wasserkanonen trieben die Körper übers Pflaster. Blaulicht, Hundertschaften und Wagenburgen. Die blitzenden Zähne deutscher Schäferhunde, und der Anblick zeigte ganz klar, auf welcher Seite das Recht stand. Und wer noch daran zweifelte, brauchte bloß in die Medien zu sehen: Wie sie gegen die auf dem Pflaster liegenden Tschakos traten. Wie sie Benzsterne abbrachen und ganze Limousinen umkippten; wie sie zündelten, diese langhaarigen Teufel, mit ihren Molotow- und Marxbrandsätzen.
    So verzerrte sich die Maidemonstration, und vom Turm herab konnten die Jungs sehen, wie auch Gisela vom Wasserstrahl getroffen wurde. Wie sie wieder aufstand und dann ein Pferd herangeprescht kam.
    Zwoeinhalb mal anderthalb Meter. Kein Tageslicht, keine Zerstreuung, und ständig dem Ich ausgeliefert. So lag Gisela auf der Pritsche. Die Leuchtstoffröhre an der hohen Decke vergittert, und sie hatte keine Ahnung, ob es Tag war oder Nacht.
    Niedergeschlagenheit und Wut ergriffen sie abwechselnd; sie fühlte sich überreizt, desorientiert und hilflos, und dann bäumte sie wieder auf, schrie und schlug gegen gewaltsamen Verschluß und Isolation. Manchmal wurde eine Klappe in der Zellentür geöffnet, und jemand schaute hindurch.
    Nach einer Zeit kam eine Frau in die Zelle. Sie war groß, und sie sprach mit einer milden Stimme. Wir halten Sie hier nicht eingesperrt,

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