Kronhardt
muÃte, erzitterten Blech und Armaturen. Manchmal sahen wir Sterne über uns, manchmal neben uns, und als wir eine Holzbrücke nahmen, glaubten wir zuerst, die Sterne leuchteten auch unter uns. Doch es waren Lichter eines fernen Dorfes, und ich war ganz erfaÃt von der endlosen Tiefe. Was im schwachen Licht vor uns geschah, nahm ich nicht wahr, und nachdem wir die Brücke passiert hatten, rief mir mein Vater plötzlich etwas zu, der Opel schlingerte, die Bremsen griffen, und ich glaubte, wir würden in diese endlose Tiefe stürzen.
Ich weià nicht, wie mein Vater so reagieren konnte. Im schwachen Scheinwerferkegel kam uns ein Leib entgegen, ich schrie, ich klammerte mich irgendwo fest, und mein Vater fing den schlingernden Opel und brachte ihn schlieÃlich zum Stehen. Der Motor schnurrte, als wäre nichts, und kurz vor der StoÃstange lag der Kadaver eines Steinbocks im Licht; der Kopf mit dem steil aufragenden und scharf gebogenen Gehörn so unheimlich verdreht, daà er zu uns in die Kabine starrte.
DrauÃen die Luft war kühl und dünn, und wir ahnten die Flanke, von der das Tier gestürzt war. Mein Vater nahm den Kopf, ich packte die Hinterläufe. Der Steinbock hatte eben noch gelebt, und wir verbrachten ihn in eine Spalte, bestatteten ihn mit losen Brocken, und zuletzt stach nur noch das Gehörn aus dem kleinen Wall.
Ãber uns, jenseits der schwarz gezackten Berge, öffnete sich glitzernde Endlosigkeit, und ich habe nie wieder eine so durchdringende Stille gespürt.
Als wir wieder im Auto saÃen, begann ich zu zittern. Mein Vater ahnte sogleich, daà es vor allem die unmittelbare Nähe von Leben und Tod war, und er nahm mich in die Arme. Seine Stimme war sanft, und er sagte zu mir, daà man im Leben nichts gegen solche Fährnisse machen könne. Was man aber machen könne, sei, jederzeit so zu handeln, als wäre es die letzte Tat. Und so, sagte mein Vater, halte er es auch mit unserer Fahrt; so lenke er und schalte, und hätte er unterwegs hier und da nur ein Ideechen mehr Gas gegeben, hätte der Steinbock uns vielleicht erwischt. Aber er hätte sich trotzdem nichts vorwerfen müssen; er habe jederzeit so gehandelt, als gäbe es keine Vergangenheit und keine Zukunft. Nur diesen Augenblick mit mir auf dem Weg zu Inéz, und so hielt mein Vater mich im Arm.
Wir fuhren bis in die Nacht. Von Westen spürten wir den Atlantik; wir stieÃen ein in Nebelbänke, bleich und undurchdringlich, und die Lichtkegel starrten bald wie Augen ins Auto zurück. Manchmal waren Steine aus dem Abhang gebrochen und lagen einfach auf der Piste, doch ich fühlte mich sicher neben meinem Vater. Noch vor der Dämmerung sahen wir das StraÃenschild Richtung Andorra; wir fuhren an zerfallenen Häusern vorbei, durch kleine, kaum beleuchtete Dörfer, die aus den Bergen geschlagen waren. Als sich der Himmel im Osten verfärbte, hatten wir unser Ziel erreicht. Ein gröÃeres Dorf mit HauptstraÃe und zweistöckigen Häusern; die Holzläden vor den Fenstern waren geschlossen, nur aus einer Bar drang Licht durch die Lamellen. Dort wartete Inéz.
Der Regen lieà erst zum Nachmittag nach. Dann drang die Märzsonne durch, der Himmel blaute wieder, und die Vögel trillerten. Durchs Küchenfenster glitzerten die Tropfen an den frischen Trieben, und als Willem und Barbara später durch den Bürgerpark spazierten, wünschte Willem sich, Inéz kennenzulernen.
Die Domglocken schlugen, und Willem wuÃte, daà er noch Zeit hatte. Inéz würde mit dem Zug um 17 Uhr 22 eintreffen, und vor sechs wären sie nicht im Speicherhaus.
Er blieb am Roland stehen, legte Hand auf, durchschlenderte die BöttcherstraÃe, zog von der Weserseite in den Schnoor und nahm dann die Wallanlagen bis zur Kunsthalle. Er sah, daà es eine Ausstellung gab. Auf einem Plakat stand: Kennen Sie Mexiko? Mexiko ist anders! Kopulierende Skelette waren auf dem Plakat zu sehen, Hunde, die einen Vulkanausbruch betrachteten, und dann eine wilde Landschaft, die sich in Willems Blick bald aufzulösen schien wie ein Bienenschwarm.
So stand er da, und Schlosser war in Mexiko. Bei den Huicholes, womöglich auf dem Weg zu einer anderen Wirklichkeit. Und im Grunde, meinte Willem, hätte auch er in Mexiko sein können. Denn sein Vater, nun: seine Eltern hätten auf ihrer Flucht vor den Nazis nicht zwangsläufig in der Schweiz landen müssen.
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