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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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Zehntausende von Emigranten hatten ihr Heil woanders gesucht. Beispielsweise in Mexiko. Er hatte gelesen, daß Mexiko offen war für Verfolgte oder Andersdenkende. Sie ließen die Mennoniten, die vor der Militär- und Schulpflicht aus Kanada geflohen waren, in ihr Land. B. Traven war dagewesen, Trotzki, vor den Nazis emigrierte Künstler und auch seinen Vater – nun, seine Eltern hätte es dorthin verschlagen können. Und er lachte in die Abendsonne: Willem, der Mexikaner. Und als Mexikaner konnte man nicht mehr behaupten, daß Mexiko anders wäre. Oder vielleicht doch? Vielleicht gerade als Mexikaner? So schlenderte er, und natürlich war es ebenso möglich, daß er in Mexiko niemals geboren worden wäre – ja, war sogar sehr wahrscheinlich –, und er dachte an das unglaubliche Spermiengewimmel unter dem Mikroskop, an die unglaubliche Verkettung von Umständen, die gerade zur Verschmelzung des einen Spermiums mit der einen Eizelle geführt hatte. Die Chance, daß sich genau diese Verkettung mit demselben Ergebnis in Mexiko wiederholt hätte, erschien nichtig, und mehr: Die mexikanischen Bedingungen mußten als Chaos gesehen werden, das sich in jedem Fall auf das Mikroklima seiner Eltern ausgewirkt hätte. Für ihn hatte es nur ein einziges mögliches Chaos gegeben. Eins. Eins gegen unendlich, dachte er, und zwischen Liebfrauen und Dom war Orion zu sehen, an der nächsten Ecke roch es nach Urin und Gebälk, und etwas weiter leuchtete die Schrift einer Kellerkneipe.
    Schlosser war nun in Mexiko, und Inéz würde mit dem 17 - 22 er eintreffen. Aus mexikanischer Sicht kam sie aus dem Geschlecht der Eroberer. Er hatte keine Ahnung, wie sie auf kopulierende Skelette reagieren würde oder auf Hunde, die einen Vulkanausbruch betrachteten.
    Die Begegnung mit Inéz war anders.
    Doch im Grunde genommen war es nicht mehr als die ständige Auslotung zwischen Betrachter und Betrachtetem. Ein alltägliches Phänomen, das man ebenso für den Blick der Spanierin voraussetzen mußte, und so nahm Willem ihre Hand. Sah das Lächeln und spürte, wie sie ihn hinter dem Leuchten ihrer Augen betrachtete.
    Sie war zartgliedrig, apart, sehr schön auf ihre Art; die Haut hellbraun, das kurze Haar dunkel und glänzend, und ihr Anzug ließ sie exotisch erscheinen. Von dem Mädchen, das damals mit Barbara in die Kamera gelacht hatte, war kaum noch etwas zu sehen. Der jugendliche Blick in die Zukunft, die Energie und Überzeugung waren womöglich gereift. Vielleicht war auch eine innere Strenge durchgedrungen, vielleicht aber hatte sie sich auch in eine Richtung verfeinert, die Willem nicht abschätzen konnte.
    Er hielt ihre Hand und ihren Blick wie von einem fremdartigen Wesen. Ein Mensch, meinte er, der die Welt wie eine Fledermaus wahrnahm oder wie eine Auster. Dann nahm er sie in die Arme und drückte sie.
    Der Kachelofen strahlte, und aus der Hängelampe fiel weiches Licht.
    Barbara hatte eine Reserva dekantiert, einen 68 er Cencibel aus Navarra. Sie schien keine Mühe damit zu haben, die Distanz zwischen Willem und Inéz aufzuheben, und unter ihrer Führung lief die Unterhaltung geschmeidig an. Willem brachte eine Anekdote aus der Hochschule, brachte dies oder das, was er auf dem Sofa gelesen hatte, und Barbara schlug daraus einen Bogen zu Inéz. Wenn die Spanierin dann erzählte, steckten in ihren Geschichten immer ein paar Brocken aus einer fernen Welt, und anfangs hatte Willem den Eindruck, als verzerrten sich ihre Worte auf dem Weg in seine Ohren. Als würde tatsächlich eine Fledermaus sprechen.
    Beim zweiten Glas erzählte er von der Ausstellung in der Kunsthalle. Von der wilden Landschaft auf dem Plakat, die sich wie ein Bienenschwarm geballt oder aufgelöst hatte; er stellte die mexikanische Andersheit in den Raum und fragte, inwieweit eine Vermischung von Eroberern und Eroberten jede authentische Geschichte verwischte, bis zuletzt kaum noch greifbare Spuren in der Volksseele zu finden waren. Und er war angenehm überrascht, als Inéz seine Frage aus einer Tiefe heraus beantwortete, in der alle Eroberer auch Eroberte waren.
    Es gefiel ihm, daß sie wußte, wovon sie sprach. Sie war nie in Mexiko gewesen, doch anscheinend lebten auf der Schanze auch Menschen aus der Neuen Welt, und Inéz skizzierte den Zustand der mexikanischen Volksseele aus zwei Blickwinkeln heraus, einem indianisch-unterdrückten und

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