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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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seiner heutigen Form war erst nach der letzten Eiszeit entstanden. Damals waren große Gebiete der Erdoberfläche von geschlossenen Eismassen bedeckt, kilometerdicke Panzer, und als die Temperaturen auf der Erde dann wieder anstiegen und die Panzer sich zurückzogen, bekam das Land seinen letzten Schliff; die welligen Rumpfflächen Northumbriens etwa, die geschrofften Küsten Skandinaviens und auch die wunderschöne Seenplatte in der DDR .
    Mit der Schmelze aber überstieg der Meeresspiegel bald die tiefen Festlandsockel – England beispielsweise wurde zur Insel, und erst jetzt schälte sich das vertraute Bild unseres Kontinents heraus. Und der Lehrer fand es wichtig, daß auch dieses vertraute Bild nur ein vorübergehender Zustand war. Erdgeschichtlich waren zehntausend Jahre ein Wimpernschlag, und in Wirklichkeit drifteten die Kontinentalschollen munter weiter; schoben sich gegeneinander, falteten ihre Kanten auf oder drückten sie in eine mächtige Tiefe, aus der bald wieder Vulkane spuckten oder Inseln aufkochten.
    Willem konnte spüren, wie die Erdkunde ihn einsaugte; es war ein vertrautes Gefühl, das an seinen Vater erinnerte, an die Streifzüge und Bücher, und auch er hatte gesagt, daß nichts endgültig so war, wie es erschien.
    Wenn der Lehrer seine Leinentafeln entrollte, entrollte er Welten, und wenn er Arbeiten schreiben ließ, fragte er nie nach Ereignissen und Daten, sondern gab den Kindern Raum. So machte Willem das Lernen Spaß, und das, was die anderen Lehrer Fakten nannten und was immer mit Pauken verbunden schien, kam in der Erdkunde von ganz allein.
    Nach der Eiszeit lag Europa taufrisch da, eine Welt unter der Sonne, die Lebensraum bot für alle. Auch die Menschen waren zu dieser Zeit bereits da; ursprünglich kamen sie aus Afrika und hatten sich in der Welt des Lebendigen aus affenartigen Vorfahren heraus entwickelt, und außer unserer eigenen Art hatte es auf der Erde viele andere Menschenarten gegeben. Im taufrischen Europa lebten damals zwei von ihnen nebeneinander, und auf der nächsten Leinentafel erschienen der Neandertaler und der Homo sapiens.
    Warum der Neandertaler es nicht bis in die heutige Zeit geschafft hatte, war noch nicht geklärt. Vielleicht war er zu sehr auf ein Leben in der Eiszeit spezialisiert, vielleicht pflanzte er sich zuletzt nur noch innerhalb der eigenen Familie fort, vielleicht war der kleinere Sapiens aber auch schlauer und listiger als der muskulöse Neandertaler – und tatsächlich, sagte der Lehrer, ist unsere Art ja bis auf den heutigen Tag spezialisiert auf kriegerische Gemetzel, und zuletzt überraschte er die Klasse, als er sagte, daß die Kinder von damals bereits genauso ausgesehen hätten wie die Kinder von heute. Wenn sie aus der Steinzeit heraus plötzlich hier auftauchten, in Manchesterhose und Pullunder, würde niemand etwas merken. Und alle lachten.
    Auf der Leinentafel stand: Die Entwicklung zum Homo sapiens.
    Die Umwelt veränderte sich ständig, und nur wer sich erfolgreich darauf einstellen konnte, überlebte; der Mensch im Wald anders als in der Wüste, im Großraumbüro anders als auf einem Bauernhof, und ein Tier im Gebirge anders als eines an der offenen See.
    Und als sich vor Millionen von Jahren die Wälder Afrikas zurückzogen, veränderte sich für die Affen dort der Lebensraum. Der Schutz endloser Wipfel wich ausgedehnten Graslandschaften, und wer weiterhin leben wollte, mußte sich den äußeren Bedingungen anpassen. Klettern zu können nutzte in einer flachen, baumlosen Landschaft gar nichts, und auch Nahrungsbeschaffung und Flucht vor Feinden mußten anders gelöst werden. Auf diese Art wurden die Waldaffen über Jahrtausende hinweg zu Savannenbewohnern; sie lernten aufrecht zu gehen, sie marschierten in kleinen Gruppen, sammelten, jagten und vermischten sich mit anderen, die womöglich aus anderen Erfahrungen heraus andere Fähigkeiten entwickelt hatten. So zogen die Clans durch Afrika; einige starben aus, andere brachten immer wieder Nachkommen hervor und wurden immer menschenähnlicher. Sie waren eng miteinander verbunden, sie konnten sich Wünsche und Absichten mitteilen, und weil es erfolgreich war, einen anderen über etwas zu informieren, entwickelten sie die Fähigkeit zur Sprache. Sie verbesserten ihre Werkzeuge, lernten Pläne zu schmieden, und bald zogen erste Clans über Afrika hinaus. Jäger und

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