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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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schienen Ursachen in tiefster Vergangenheit aufzudecken und noch die wirkenden Zusammenhänge bis in die Gegenwart. Jede neue Woche freute er sich auf die Erdkunde, und jedesmal wurde er von dem Stoff eingesaugt; ritt auf den driftenden Schollen, marschierte aus der Eiszeit hinein in die atlantische Periode voller Fruchtbarkeit und war dabei, wenn der Cro-Magnon seine wunderschönen Przewalski-Pferde auf die Höhlenwände malte.
    Mitten im Unterricht schnappte die Tür auf, und der Rektor erschien. Die Klasse sprang auf und begrüßte den Mann, so wie das Fräulein von Weyer es ihnen beigebracht hatte. Der Rektor trug einen Talar, und mit seinen flackernden Augen schien er alles zu kontrollieren. Setzen, bellte er, dann schnippte er zur Tür, und ein Junge trat ein. Die Klasse machte große Augen; einige hielten sich auch die Hand vor den Mund. Der Junge hatte eine Hakennase, schwarzes Haar und dunkle Haut; seine Augen und Zähne leuchteten.
    Euer neuer Mitschüler, sagte der Rektor. Seht ihn euch an. Du da, und er schnippte nach einem Mädchen, was sagst du dazu? Das Mädchen sagte nichts und weinte schließlich. Du da, und der Rektor zeigte auf einen Lümmel. Zuerst schlotterte der Lümmel, dann stand er stramm und sagte: Ein Steinzeitmensch, Herr Direktor.
    Der Rektor schien zu lächeln. Nun, ich sehe, ihr habt aufgepaßt im Unterricht.
    Dann meldete sich der dicke Siegfried. Meine Großmutter war mal auf der Völkerschau bei Hagenbeck. Da gabs Zwerge zu sehen und Krüppel. Aber auch Wilde; Indianer, Menschenfresser und Neger, und ich glaube, Herr Direktor, das ist ein Neger.
    Das Lächeln des Rektors wurde zum Lachen, dann lachte die halbe Klasse. Und der Erdkundelehrer fackelte nicht lange. Er schnauzte gegen das Lachen, und als der Rektor rief, NaNaNa!, schnauzte er auch gegen den Rektor.
    Danach war es still; so standen die beiden Männer einander gegenüber. Der eine jung, studentisch, mit Rollkragenpulli, der andere gescheitelt und eingefleischt unter dem Talar. Die Augen des Rektors flackerten, sein Hals war angeschwollen. Und der Erdkundelehrer zog schließlich den fremden Jungen zu sich und nahm ihn an seine Seite.
    Die Stimme des Rektors kam gepreßt. Ich werde den Senator informieren. Einen Agitator werde ich melden. Und gegen die Klasse bellte er: Weitermachen! Dann zog er mit fliegenden Rockschwänzen davon, und der Erdkundelehrer, als wäre nichts, lächelte dem Neuen zu.
    Das Wort leitete sich aus dem Lateinischen her und entwickelte sich über das Spanische zum deutschen Neger. Und in allen Sprachen hatte es einmal nicht mehr und nicht weniger bedeutet als schwarz. Doch Neger war zu einer landläufigen Bezeichnung geworden für die aus Afrika stammenden Farbigen; ein Begriff, um etwas in eine Kategorie zu packen und wiedererkennbar zu machen, so wie Holz oder Wasser. Und Neger war ein Sprachinstrument der Weißen, das die Menschen, die damit bezeichnet wurden, weder kannten noch wollten. Ein Begriff wie weißer Teufel oder Fettsack; eine Überheblichkeit und Beleidigung, doch in der Regel kümmerte die Weißen nicht, was die Schwarzen darüber dachten.
    Der Lehrer entrollte eine Leinentafel. Zum Beispiel die USA .
    Dort gab man sich stolz, Freiheit und Individualität verfassungsmäßig zu garantieren, ein Gesellschaftsvertrag, der alle Bürger gleich machen sollte. Doch in Wirklichkeit war dieser Vertrag von Anfang an eine Lüge, weil alle Rechte nur Rechte der Weißen waren – Gleichheit war weiß, und weiß war gottgegebene Macht –, ein kapitaler Fehler aus der Geschichte, den die USA stumpf in ihre Staats- und Individualverfassung übernommen hatten. Und so waren Deportation und Ausrottungskriege gegen die amerikanischen Ureinwohner völlig legal, und auch die Schwarzen waren immer noch, wozu Europa sie vor fünfhundert Jahren gemacht hatte: eine untergeordnete Masse zur steten Verfügung. Daran hatte auch die offizielle Abschaffung der Sklaverei durch Abraham Lincoln nicht viel geändert. In ihren Köpfen blieben die weißen Amerikaner rassistische Fundamentalisten, und somit standen sie Lincolns fanatischem Mörder näher als Lincolns Ideen von Gleichheit. Und diese Krankheit steckte bis heute in den weißen Köpfen – nichtwahr: In den Südstaaten gab es weiterhin Menschen, und der Rest, das waren die Nigger, die Rothäute und Kameltreiber. Der Rest, das war

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