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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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mir die Hand und machten ein paar Komplimente; sie sprachen von meinem Einsatz für die sozialistische Elite am Polytechnikum, sie sprachen von Tatjanas Begabung auf der Oberschule, und als sie sich an Boris wandten, verneigten sie sich vor seinen herausragenden Fähigkeiten und seiner vorbildlich kollektiven Art, in der er dem Klassenfeind ein für allemal den Unterschied offenbarte zwischen hemmungslosem Egoismus und wahrer menschlicher Größe. Dann hoben sie ihre Gläser; tranken auf die sozialistische Familie als Basis dieser menschlichen Größe, tranken auf den Staat als Basis der Familie und ermunterten uns, doch mal ins Ausland zu reisen. Plattensee, sagten sie, Schwarzmeerküste, oder warum nicht Kuba. Ein kultureller Austausch, sagten sie, Inspirationen, und tatsächlich bewirkten diese Worte, daß wir uns der Vorstellung hingaben. Zu Hause lagen wir in unserer Kapsel, und auch Tatjana wurde von dem Gefühl ergriffen. Boris ließ seine Schätze von den Magnetophonbändern erklingen, historische und bald zeitlose Aufnahmen, die unser kleines Glück vollkommen machten. Wir schwebten mit Charlie Parker und Django Reinhardt, wir schwebten mit John Abercrombie und Joni Mitchell, und die Schwingungen aus dem Magnetophon trugen uns in den Kosmos hinaus.
    Bald darauf sollte Boris ein Gastspiel mit den Berliner Philharmonikern geben. Das fünfte Klavierkonzert von Beethoven, und es war noch vor Karajans Rücktritt, er selbst würde hinterm Pult stehen; eine unglaubliche, eine wunderbare Sache, und die Genossen forderten mich auf, meinen Mann bei dieser Demonstration vor dem Klassenfeind zu begleiten. Auch Tatjana sollte mit, sollte die Vollendung der Kunst aus dem Kollektiv heraus erleben, und um uns von vornherein alle Angst vor den schädlichen Impulsen dort zu nehmen, würden wir in Begleitung in den Westteil der Hauptstadt reisen.
    Zwei Tage vor unserer Abfahrt wurde Tatjana plötzlich krank. Sie hatte einen Brechdurchfall bekommen, und der hinzugerufene Arzt wies sie vorsorglich ins Krankenhaus ein. Am nächsten Tag konnte sie schon wieder lächeln, doch sie war noch blaß und schwach, und im Krankenhaus machten sie uns klar, daß unser Kind die Konzertreise nicht mitmachen konnte. Boris und ich waren traurig, doch Tatjana war tapfer. Sie lächelte und sagte, daß sie die Aufführung im Radio verfolgen werde.
    Eine Wartburg-Limousine holte Boris und mich am nächsten Tag ab. Als wir einstiegen, begegneten wir unserem Nachbarn, dem Genossen Delitzsch. Er grüßte und zog den Hut.
    Boris spielte wunderbar. Er spielte in den alles durchdringenden Äther, verwandelte Beethoven in elektromagnetische Wellen, die sich hinein in den Kosmos und bis in das Radio an Tatjanas Krankenbett ausbreiteten. Und während Boris hinter dem Flügel saß, schwebte ich innerlich, als hielte ich Tatjanas Hand, und nach dem Applaus und dem Büfett, nach dem Plausch mit Karajan und mit westdeutschen Musikerkollegen wurden wir von unseren Genossen zurück ins Hotelzimmer begleitet.
    Am nächsten Tag brach unser kleines Glück zusammen.
    Die Genossen brachten uns zur Grenzübergangsstelle, die Kontrolleinheiten nahmen unsere Pässe, und dann tauchten zwei Stasimänner auf. Sie gaben sich bestimmt, aber freundlich, und sie führten uns durch ein verschlungenes Gangsystem bis in einen Raum. Sie geleiteten uns an einen Tisch, um den vier Stühle standen, baten um etwas Geduld und ließen uns alleine. Es war ein kleiner Raum mit einer dunklen Fensterscheibe in der Wand, und wir vermuteten, daß man uns von dort aus beobachtete. Wir vermuteten auch, daß der Raum abgehört wurde, aber warum das alles geschah, wußten wir nicht. Vielleicht hatten wir nach dem Konzert mit den falschen Leuten gesprochen.
    Dann sprangen Leuchtstoffröhren an, und das Fenster in der Wand erhellte sich. Dahinter sahen wir einen weiteren Raum, und auch dort stand ein Tisch. Und auf diesem Tisch lag unser Zuhause. Intime und vertraute Dinge, die anscheinend zu willkürlichen Haufen geordnet waren und vor denen Aktenschildchen aufgestellt waren. Wir hatten Angst, und auf den Schildchen standen Bezeichnungen wie Attraktor und Raskolnikow Zwo, Marderhund oder Phasenraum. Und während wir noch durch das Fenster sahen, kam ein Mann in unseren Raum, stellte sich als Oberst Gräpkenhoff vor und teilte uns mit, daß wir unerwünschte Bürger seien und nicht mehr

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