Kronhardt
Endlosigkeit von Raum und Zeit alles andere auflöste.
Eines Tages konnte Willem sehen, wie die Stadt sich bewegte. Als würde sie marschieren oder ihr Getriebe gegen die Feuchtwiesen und das alte Bauernland stülpen, und anfangs glaubte er noch an eine vorübergehende Erscheinung. Er sah ein paar Vorposten, Landvermesser etwa, die mit geschulterten Nivellierinstrumenten über die Wiesen gingen, und als sie verschwunden waren, schien wieder alles ruhig. Doch dann wurden Pflöcke in das weiche Land getrieben, die Claims bleckten wie Raubtierzähne, bald standen die ersten Bauherrentafeln, aus einer illustren Runde heraus machte irgendwer den ersten Spatenstich, und so marschierte die Stadt; schickte ihre Heere, das weite Land wurde systematisch einverleibt, und wenn Willem aus dem Teufelsmoor zurückkam, muÃte er einsehen, daà es eine ernste Sache war.
In der Ãffentlichkeit wurde der soziale Wohnungsbau gefeiert. Politische Propaganda wurde handfest gemacht, neue Zeit und neues Glück wurden sichtbar, und die Zeitungen berichteten in groÃen Artikeln über das Wunder der jungen Bundesrepublik, über den mächtigen Schwung, der alles Wachstum und alle Zukunft bereits aus sich selbst heraus antrieb.
Für Willem stieg aus den pionierhaften und groÃangelegten Baustellen eine bedrohliche Unordnung; die Menschen gingen wie selbstverständlich an das Land, rissen tiefe Schichten heraus, und bald überzogen Berge die Ebene, und aus den Kratern trieb der Eingeweideduft der Erde. Vor allem diese so lang verkapselten Gerüche und die aufgeschichtete Zeit an den Kraterrändern zogen ihn an, und bevor Rohre und Kabel ausgelegt oder Fundamente gegossen waren, hatte er ein paar Dinge hervorgebracht. Eine mächtige Geweihstange etwa oder zwei holländische Münzen, und kurz danach wurden auch schon Zäune gezogen, und nach Feierabend patrouillierten Männer mit Hunden. Willem erkannte die gestickten Embleme auf ihren schwarzen Uniformen: S.O.D. â Sicherheit und Objektschutz Deutschmeister. Ein Kunde und Geschäftsfreund seiner Alten, dieser Deutschmeister, und Willem riskierte es nicht, erwischt zu werden.
So wurden die Feuchtwiesen in Unordnung gerissen; Wälle und Gruben wanderten, über Nacht trieben Wildgräser aus, und schon am nächsten Tag erkletterten Raupen die Flanken und machten unter schwarzen Dieselwolken alles plan. Ziegelhaufen, die unerschütterlich unter einem Herbststurm gelegen hatten, lösten sich heute auf und waren schon morgen ganz woanders wieder zusammengesetzt; an einem Nachmittag spiegelte sich der Himmel in einer Grube, und am nächsten rollte bereits eine Walze über glitzerndes Schwarz.
Aber auch wenn Willem diese seltsam unzuverlässige und sprunghafte Welt mit Staunen beobachtete, blieb der Eindruck dahinter stets bedrückend. Die Stadt marschierte unaufhaltsam gegen Trappen und Teufelsmoor, gegen Horizont und Wolken. Und sie marschierte um so schneller, je weiter sie vorstieÃ; erfaÃte die alte Kate mit der gebrochenen Weide und dem Siebenschläfer, erfaÃte die Seggenfelder der Bekassinen, und im Frühling standen die Ausleger der Kräne über den tollkühnen Manövern der Kiebitze.
So wurde die Ordnung vom Millimeterpapier aufs Gelände übertragen, und unter der Regie von Männern mit Goldrandbrille und Feldstiefeln schluckten die Neubauten den Raum in all seiner Ausdehnung. Auf den Bauherrentafeln wurde mit internationalem Stil geworben, mit gepflegter Entspannung und gesitteter Gemeinsamkeit, und schon die Rohbauten muÃten wie der Born einer neuen Gesellschaft erscheinen. Täglich strömten jetzt die Schaulustigen und waren schwer beeindruckt, wie Rasen und noch jedes Bäumchen vom Papier in die Realität übertragen wurden.
Willem fand neue Plätze, wo es ihm gefiel. Einen Steg an der Wümme, einen Hochsitz vor den Eiszeitspuren der Bremer Schweiz und auch den Hafenkopf mit Sicht auf die Ãberseedampfer. Oftmals zog er aber auch ohne Ziel dahin, die Muskeln kentaurenhaft verbunden mit der maschinengefertigten Mechanik, die Muskeln befeuert von uraltem Treibstoff; ein Wanderer aus der Antike, ein Juri Gagarin, und so strömte die Welt auf ihn ein. Endlos aus dem GroÃen, endlos aus dem Atomistischen, und manchmal war er erstaunt, wie Zeit und Distanz sich auflösen konnten.
Ab und zu fuhr er auf die andere Weserseite und fand Hans und Marduk auf dem
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