Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
Vom Netzwerk:
unglaubliche Vielfalt menschlicher Möglichkeiten und Blickwinkel. Die viermal fünfundvierzig Minuten in der Woche liefen wie von selbst, und er stellte endgültig fest, daß Wissen keine stumpfe Anhäufung von Fakten bedeutete, sondern sich in Triebkraft verwandeln konnte.
    Die meisten anderen Lehrer jedoch erschienen wie das Fräulein von Weyer. Sie allein bewahrten das Wissen über die letzten Dinge, sie zweifelten niemals, sie waren behütet im Getriebe ihrer Institution und legitime Vollstrecker dieser unsichtbaren Macht. Und so genossen diese Lehrer sich selbst, ratterten, was der Lehrplan forderte, und ihre Urteile waren höchste Instanz: ist 1 , ist 5 , wie gehabt, doch aus der geisterhaften Fernwirkung von damals war endgültig Offenbarung geworden. Ich, sagten die Lehrer, und wer es bei diesem Ich nicht schaffte, hatte auf dem Alten Gymnasium nichts verloren. Da waren sie sich einig, und so verkapselten die Klassenzimmer sich im 45 -Minuten-Takt.
    Nur der Lateinlehrer schien anders. Und weil Willem wußte, daß so ein Lehrer von heute auf morgen verschwinden konnte, machte er sich manchmal Sorgen. Ohne die Ausschweifungen würde Latein sich in ein lästiges Fach verwandeln, und reduziert auf Beugung, Form und Gesetz würde es ruckzuck zu einem abstrakten und zeitfressenden Brocken. Doch der Lateinlehrer erschien auch im nächsten Jahr; er kündigte Cäsars zweiten Rheinübergang an, er war jederzeit bereit abzuschweifen, und wenn er mit den Alten von der Verrohung des Geistes sprach, von Imperialismus und Krieg, war das keine Agitation, sondern Fundamentalwissen.
    Mit dem Klepper, wie Kronhardt das schwarze Rad genannt hatte, war Willem auf Anhieb vertraut – und mehr noch, fühlte sich mit dem Wissen aus der Antike bald wie ein Kentaur; der dicke Schwingsattel markierte die Naht der Verwachsung, und sobald er in die Pedale trat, wurden Muskeln, Ketten und Lager eins. So zog er aus Magnesien in die Jetztzeit, ein Nachfahr der legendären Stuten, und drang vor in die Welt; ein Gefühl, als würde er selber in einem Zentrum verbleiben, während sich rings die Räume strahlenförmig erweiterten.
    Ihm gefiel das flache Land. Von Gräben durchzogene Feuchtwiesen, die ostwärts bis ins Teufelsmoor langten und dort mit dem Horizont verschmolzen. Manchmal konnte er über dem Bogen dunkle Regenstreifen sehen oder Blitze, während er selbst unter einem klaren Himmel stand. Richtung Norden warf sich die Geest auf, hohe mit Laubwald bewachsene Moränen, und wenn das Licht günstig fiel, konnte er zwischen den Stämmen die alten Schmelzwasserrinnen der Gletscher erkennen. Er sah Rinderherden unter den segelnden Wolken ziehen, ein Fluß schlängelte, aus dem Röhricht stiegen Reiher, und im Herbst und Vorfrühling rasteten die Gänse auf den Wiesen. Einmal entdeckte er einen Trupp auffällig großer Vögel, die dahinstolzierten und seltsam bellten. Als er sich heranschleichen wollte, liefen sie davon; übersprangen mühelos die breiten Gräben und behielten ihn auch aus der Entfernung im Blick. In einem Bestimmungsbuch fand er die Vögel wieder; es waren Trappen, die in Westdeutschland nur noch selten erschienen. Würdevoll aussehende Tiere, die ausgedehntes Land brauchten und äußerst scheu waren. Willem sah die Trappen nie wieder, aber daß er sie einmal gesehen hatte, war ein kleiner Schatz.
    So zog er wie ein Kentaur; die Schilfgürtel folgten den Mäandern des Flusses, und von den alten Höfen strömten die Gerüche. Er sah die Jahreszeiten in den Küchengärten, die Apfelwiesen, und im Herbst wurden die Gruben fertiggemacht für die Feldfrüchte. Meist kläfften die Köter, wenn er vorbeizog, und regelmäßig hielt er bei den Schweinen. Sie hatten eine Suhlkuhle und stattliche Eichen, und wenn er am Gatter stand, kamen sie und grunzten ihn mit schlauen Augen an.
    Die Bank war nach Süden ausgerichtet und stand gleich bei der Skulptur; es war ein nackter Reiter, der sein Pferd führte. Willem hatte sein Rad dagegen gelehnt, die Sonne stand über der alten Ulme, und aus den Wallanlagen hörte er den lachenden Ruf eines Grünspechts. Auf dem alten Graben zur Stadtverteidigung zog ein Schwan dahin, und dann war die Frau aufgetaucht. Eine Spaziergängerin zuerst, in cremefarbener Kostümjacke und mit gelackter Krokotasche, die im Nachmittag reflektierte. Einmal verschmolz sie

Weitere Kostenlose Bücher