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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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Teerhof. Dann saßen sie gemeinsam, bereiteten Fisch über dem Feuer, und der Himmel stand fliederfarben, oder Wolkenbänder spannten sich vor der Abendröte. Der Fluß lief ab und wieder auf, die Gänse kamen, die Stinte kamen, und im Luftdruck tanzten die Insekten.
    Auf der Insel erzählten sie Geschichten; Hans war mit den Fischern nach Helgoland getuckert, die Geweihstange, die Willem aus der Erde gezogen hatte, stammte womöglich von einer längst ausgestorbenen Art, die Flammen speisten sich von der Welt, und im Glast erschien bereits das Neue. Hans lachte durch seine Hasenscharte, und aus Marduks Gesicht leuchteten Zähne und Augen. Und wenn er Geschichten erzählte, schwang eine Welt mit, um die Willem ihn beneidete.
    Einmal hatte Marduk die Raben beobachtet; seine Herde war eine braungeschroffte Flanke hinabgeklettert, während der Euphrat aus der fernen Schlucht donnerte. Marduk sah, wie die Raben sich von den Aufwinden hochtragen ließen, um darauf schreiend und lachend gegen den Fluß zu stürzen. Als hätten sie mächtig Spaß dabei, doch als sie mitkriegten, daß Marduk sie beobachtete, unterbrachen sie ihr Spiel und verzogen sich in eine Steilwand. Erst als er mit der Herde unten auf der Holzbrücke war, sah er die Raben wieder. Sie waren jetzt ganz nah und beobachteten ihn, wie er sie beobachtete, und so saßen die Jungs um das Feuer. Sie warfen Fischreste in die Flammen, sie lauschten dem Zischen und versuchten, die Welt mit den Augen eines Raben zu sehen. Doch jedes Wunder und jedes Rätsel, das die Jungs angingen, vertiefte sich bald, und was immer sie aufdeckten, brachte neue Verborgenheit hervor. Es war Marduk, der schließlich sagte, daß das so sein müsse. Daß keine Antwort ohne neue Fragen bleiben könne, weil der Mensch unfähig sei, die ganze Welt zu erfassen. Und daß der Mensch demütig sein müsse, sagte Marduk, und dankbar für seinen Platz in der Welt. Das habe er in seiner Heimat gelernt.

9
    Um Viertel vor klingelte der Wecker, mit den 7 -Uhr-Nachrichten gab es Frühstück. Und während die Alten kauten, die Zeitung kommentierten und den Tag planten, hielt Willem noch Stille und Selbstbestimmtheit der Nacht. Die ersten Kontakte zu den Anforderungen des Tages schaltete er auf dem Klo; Vokabeln, Aufbau der Zelle, Analyse und Neuordnung, je nach Stundenplan. Um zwanzig vor holte er das Rad, und wenn Dom und Liebfrauen dreimal anschlugen, war er in den Wallanlagen. Dort nahm er Tempo raus; die Nacht stieg aus dem Boden, Enten schnatterten, und durch die Wipfel zog eine Brise. Dann kreuzte er die großen Straßen, zum Bahnhof hin verdichtete sich das Gewimmel, und über dem Tunnel stießen Fontänen einer Dampflok. Wenn er dann in das dunkle Gewölbe zog, hallte der Autolärm endlos wider, und jedesmal erschien der Bogen aus Tageslicht als ein seltsames Ziel. Dort dehnte sich die Welt wieder aus, und zugleich, nach fünf, sechs Pedalschlägen, schob sich unvermeidlich das Alte Gymnasium gegen den freien Blick – ein schwerer Bau aus dem letzten Jahrhundert, der Stilelemente und Etappen deutscher Geschichte großspurig nachäffte und alles Unechte mit solider Wucht verschleierte. So wurde bald jeder Pedalschlag vom Schatten der Lehranstalt eingesaugt, und wenn Willem in Lärm und Durcheinander stieß, zeigte der große Uhrenturm meist kurz vor acht.
    Es gab drei Abstellplätze für die Räder und eine simple Hierarchie. Auf dem ersten standen die Mädchen mit Pferdeschwanz und Rock, und die Jungs hockten auf ihren Rollern, rauchten und trugen Jacken mit Clubabzeichen. Auf dem Platz daneben saßen die Jüngeren bereits in ihren Startlöchern, die Jungs auf ihren Rädern so lässig, als hätten sie Motoren, und die Mädchen tuschelten in kleinen Gruppen und gaben sich hochnäsig. Willem parkte auf dem Gemeinplatz. Dort waren die Mädchen unscheinbar, mit Dutt oder Zöpfen, die Jungs waren auf Zack in Chemie oder Mathe, und auch Harald und Achim hingen dort rum. Sie waren Klassenkameraden, und manchmal fragten sie nach den Hausaufgaben. Willem ließ sie jedesmal abschreiben, und dann stand er da, und sie sagten, Werder wird Meister, oder Onassis läßt seine Flotte bei uns bauen.
    Harald und Achim trugen, was den großen Brüdern nicht mehr paßte, und ihre Tornister waren Taschen der Väter mit Spuren von Thermoskanne und Butterbrot. Diese Jungs

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