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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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einem mächtigen Turm. Gegen ihre Gestalt erschienen die Jungs wie geschrumpft, und Willem wälzte sich in diesen Bildern. Fühlte sich wach, wenn er schlief, und sobald er die Augen aufschlug, glaubte er zu träumen.
    Einmal stellte er sich ans Fenster, und mit den vertrauten Bildern der Sterne schien es besser zu gehen.
    Der Auswurf kam in tiefer Nacht.
    Als er wach wurde, stieg er aus dem Bett. Drehte die Schreibtischlampe an, bestrich ein Objektgläschen und saß wie ein Forscher. Schweiß trat ihm aus, und er konnte zusehen, wie sie sich bewegten.

14
    Willem hatte ein gutes Zeugnis bekommen, die Stickerei machte Betriebsferien, und sie fuhren an die Nordsee. Drei Wochen Onassis, meinte Kronhardt, doch in Wirklichkeit gab es noch immer Nachlaß wegen der großen Sturmflut. Und Onassis, mußte Willem feststellen, war relativ: Die von Katteneschs fuhren über St. Moritz nach Capri, Lasalle besegelte die Ägäis, und die linke Frederike war in Paris. Derweil kümmerte Schlosser sich um die Zwillinge. Also drei Wochen Duhnen.
    Als sie ankamen, blickten sie kilometerweit, und das Meer war ein Silberstreif am Horizont. Die Mutter fand das herrlich. Willem entdeckte auf Anhieb mehrere Familien der Watvögel, und in der salzigen Luft wurden ihre Rufe zertragen. Das Watt war gefurcht und funkelte unter der Sonne; Blasen und Kegel trieben auf, und manchmal bewegte sich eine Muschel. Je länger er schaute, desto mehr konnte er entdecken. Er war zufrieden und spazierte, bis das Wasser zurückkam.
    Sie wohnten in einer Pension.
    Natürlich hatte Willem ein Zimmer für sich, und natürlich war er darauf gefaßt, daß die beiden Alten ihren ehelichen Pflichten nebenan nachkommen würden. Er hielt wohl die Ohren offen – Schlosser hatte von tierhaftem Grunzen und Schreien gesprochen, doch daß er nichts hörte, beruhigte ihn ungemein. Was er mit Solveig und den anderen für sich entdeckte, erschien ihm privat und kostbar, und jede noch so kleine Überschneidung mit den Alten hätte diese Reinheit verschmutzt. Zugleich wurde ihm klar, daß ihn die Nacktheit der Alten ekeln mußte, und noch ihre Blicke, denen er seine eigene Nacktheit über so viele Jahre ausgeliefert hatte.
    Als er nach drei Nächten immer noch nichts gehört hatte, war er sicher, daß die Alten weder zu einem reinen Gipfel noch zum tierhaften Rausch in der Lage waren. Nicht mal den stummen Legionär traute er ihnen zu – bei allem Blond und Blauäugig und Zackzack, nein: Das einzige, was in Betracht kam, war die Raubwanzenvariante, und so ahnte er, wie nebenan der Stachel ins Herz getrieben wurde. Selber verbiß er sich regelmäßig ins Kopfkissen.
    Die Tage verbrachten sie am Strand.
    Jeden Morgen wurden die Zeiten für Ebbe und Flut auf eine Tafel gemalt, und Willem stellte fest, daß das Wasser täglich später kam. Die beiden Alten interessierte das nicht; Kronhardt baute Burgen, die Mutter lag im Strandkorb, blätterte in Illustrierten und pflegte ihre vornehme Blässe. Manchmal blickte Willem auf ihre Brüste; die ausgeprägten Formen unter dem Badeanzug, die kräftige Spannung und den tiefen Spalt zwischen den Hemisphären. Kaliber wie Tatjana oder Solveig. Eine unangenehme Sache.
    An einem Morgen traf er den Mann, der für die Tafel zuständig war. Sie sprachen über die Gezeiten, und der Mann erzählte, daß Ebbe und Flut sich täglich um eine knappe Stunde verschoben. Manchmal verstärke der Luftdruck die Effekte, und noch der Erdkörper selbst hebe und senke sich, als würde er atmen. Doch hauptsächlich überwiege der Einfluß des Mondes, und die Verschiebung der Gezeiten hänge vor allem damit zusammen, daß sich sein Höhepunkt am Himmel täglich ändere.
    Willem konnte sich dafür begeistern, während die Mutter im Strandkorb blätterte und Kronhardt Burgen baute. Gezeiten waren für die Alten selbstverständlich, und sie verschwendeten keine Gedanken darauf; noch wenn der Rhythmus sich änderte oder ganz ausblieb, würde sie das erst interessieren, wenn es sie unmittelbar betraf. Doch nicht die Ursachen würden sie dann interessieren, sondern wie sich das, was sie betraf, wieder in einen Zustand von fragloser Selbstverständlichkeit verwandeln ließ.
    Also drei Wochen Onassis. Burgen bauen und im Strandkorb die vornehme Blässe pflegen – und wie blaß konnten eigentlich diese

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