Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
Vom Netzwerk:
ewig verhüllten Brüste sein?
    Morgens war Kronhardt der erste. Halb acht kam er vom Kiosk, und ohne anzuklopfen, öffnete er die Zwischentür, lief durch die Zimmer und las aus der Zeitung vor. Die Welt zittert vor Breschnew, rief er dann, die USA kämpfen in Vietnam, doch am wichtigsten war ihm die Mauer. Seht euch das an, rief er und zeigte auf das Titelbild. Einen Fuß vor der Freiheit erschossen. Und so las er bald wie ein Propagandasprecher, beim Frühstück wurde diskutiert, und als Wahrheit blieb jedesmal eine griffige Formel.
    Pünktlich um ein Uhr verschloß Kronhardt den Korb und machte einen Gang um die Burgen. Sie aßen gemeinsam eine Kleinigkeit im Strandlokal, und danach wiederholte Kronhardt den Gang; wenn er fremde Spuren entdeckte oder Muscheln fehlten, konnte er sich lange darüber ärgern. Er überlegte, ob sich das Terrain einzäunen ließ oder man Willem als Wächter abstellen könnte, doch der Blick seiner Frau genügte, um ihn von solchen Ideen abzubringen.
    Abends machten sie sich in der Pension zurecht und stiegen dann in den Borgward. An einer Tankstelle ließ Kronhardt die Scheiben putzen, steckte dem Burschen einen Groschen zu, und so ging es nach Cuxhaven rein. Immer dieselbe Strecke, immer dasselbe Restaurant an der Kugelbake. Der Kellner nannte sie bald die Herrschaften aus Bremen und führte sie an einen Tisch mit Seeblick, den die Alten unseren Tisch nannten. Vor der Rückfahrt holte die Mutter ihren Kalender und plante den nächsten Tag. Einmal machten sie eine organisierte Wattwanderung, einmal eine Kutschfahrt nach Scharhörn, und freitags hatte die Mutter einen Termin beim Frisör.
    Bei Flut zog Willem über den Strand oder flanierte auf der Meile. Die Frauen trugen Schwimmanzüge oder Bikinis, und manche verwickelten sich wie von selbst in seine Gedanken; wenn er abends im Bett lag, schienen sie wie geheimnisvolle Vertraute, die ihn in alles einführen konnten. Manchmal suchte er am nächsten Tag ihre Nähe und war sicher, daß auch die Frauen dieses Vertraute spürten und sein Verlangen auf eine geisterhafte Art auf sie überspringen würde. So saß er in ihrer Nähe, las Rimbaud, Einstein oder Lorenz und verkündete im stillen die Anziehung.
    Wenn das Wasser abzog, marschierte er hinterher.
    Die Priele waren Spiegel und die Furchen Fraktale vom Anfang der Zeit. Die gurgelnde Wasserlinie verwischte den Horizont und erschuf dahinter grenzenlosen Raum. Wenn ein Dampfer durch die Fahrrinne zog, verschmierte er in der Ferne wie Quecksilber, und bald marschierte Willem wie auf einer Scholle; alle Weite schlug zurück und machte das Alleinsein zu einer wunderbaren Sache. Unter ihm schmatzte es und Blasen schlugen, Krabben richteten ihre Stielaugen aus oder bewegten sich, als wären sie alle miteinander verbunden. Einmal stiegen unverhofft Regenpfeifer auf, eine flirrende Wolke unter der Sonne, und bald sah Willem nur noch Teilchen gegen den Horizont.
    Er wußte, wann er umkehren mußte. Er hatte die Bogenminuten der Sonne im Auge, und ein paarmal konnte er auch erkennen, wie das Gurgeln der Wasserlinie aufschäumte und dann umschlug.
    Nach der großen Sturmflut war die Meile saniert worden. Strandkörbe und Kioske waren neu, und auch die Masten mit den Windsäcken. Am Hochsitz der Rettungsschwimmer hing eine Tafel. Nach Beaufort, stand darauf, und fünf war frische Brise, bei sechs bildeten sich Schaumköpfe auf dem Wasser, ab zehn wurde alles schwer und bedeutungsvoll, und jede weitere Stärke hatte etwas mit Orkan und kaum noch vorstellbarer Potenzierung zu tun.
    Ein Junge stellte sich zu ihm an die Tafel. Ich bin Erwin.
    Moin.
    Aus Mettmann. Und du?
    Er war dick, hatte ein verschmitztes Gesicht und trug eine Kastenbrille.
    Willem grinste, und dann gaben die Jungs einander die Hand.
    Erwin sagte: Letztes Jahr waren wir in der Lüneburger Heide und haben gesehen, wie eine Herde mit Schnucken durchgegangen ist. Oder er sagte: Mein Uropa war als kleiner Junge dabeigewesen, als sie den Neandertaler aus unserer Grotte holten. Dieser Erwin konnte Geschichten erzählen, er knüpfte problemlos Kontakte, und bald stand noch ein Junge da, dann zwei Mädchen, und wie von selbst wurde der Kreis immer größer. Sie kamen aus Bargfeld, Lübeck oder Berlin, Erwin erzählte und steckte sie alle mit seinem Lachen an, dann trafen sie sich täglich unterm Hochsitz, und jeder war

Weitere Kostenlose Bücher