Kronjuwel (German Edition)
kommenden Stunden damit zu verbringen, sich von schlechtem Programm betäuben zu lassen.
Noah rannte die Gänge der Universität entlang. Gerade noch pünktlich kam er in den Vorraum des Büros seiner Vorgesetzten gestürmt und richtete noch einmal seine Krawatte. Er wusste, dass seine Haare zerwühlt waren und sein Hemd wahrscheinlich wie ungebügelt aussah, doch es war ihm egal. Sein Aussehen kümmerte Caine sowieso nicht im Geringsten, sie hatte nicht vor, ihn irgendjemandem vorzuführen. Er grüßte ihre Sekretärin im Vorbeigehen und fragte sich, wie man nach einem völlig faulen Tag wie dem gestrigen so verschlafen konnte, während er zweimal an ihre Bürotür klopfte bevor er eintrat.
Professor Caine war eine etwa 50 jährige Frau mit schon hundertfach gefärbten Haaren. Sie, das wusste Noah, legte größten Wert auf ihr Erscheinungsbild und was er sah, als er ihren Raum betrat, bestätigte dies nur. Sie saß in einer pinken Strickjacke über einer weißen Bluse hinter ihrem tiefbraunen Holzschreibtisch, über den sie jedem, der es hören wollte, erzählte, wie sie ihn gefunden, restauriert und neu lackiert hatte. Die Wahrheit war, dass sie ihn gefunden hatte und daraufhin einem unglücklichen Archäologiestudenten als »Übung für die präzise Arbeit mit Instrumenten bei Ausgrabungen« aufgetragen hatte, den Tisch zu säubern, zu reparieren und anschließend zu lackieren. Noah konnte sich an diese Geschichte noch gut erinnern, denn der unglückliche Student war mittlerweile Dozent an der Universität und stand beinahe ebenso unglücklich wie damals noch immer unter Caines Fuchtel. Das allerdings galt für so ziemlich jede Person, die die Fakultät an der renommierten University of Oregon betrat und nicht schnell genug wieder davonlief.
Auf Caines Schreibtisch herrschte die perfekte Ordnung. Die Bleistifte lagen sorgsam angespitzt in Reih und Glied neben einem kleinen Notizblock in der oberen Ecke. Ansonsten befand sich auf dem Tisch nur eine Mappe mit Unterlagen, die nach altem Kartenmaterial aussahen und ihrem Notebook, das sich in einer halbtransparenten, pinken Silikonhülle befand.
»Ich dachte, Sie würden gar nicht mehr auftauchen. Wo waren Sie gestern?«, eröffnete sie in einer bewusst desinteressierten Tonart das Gespräch ohne den Blick vom Bildschirm des Computers zu nehmen.
»Ich hatte gestern frei«, antwortete Noah trocken, »aber das wussten sie natürlich noch, denn es kommt ja nicht so oft vor, dass man sich die wenigen Tage im Jahr nicht merken könnte.« Dabei musste er daran denken, dass er selbst am Tag zuvor vergessen hatte, dass er ausschlafen konnte, und er musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
»Ja, ja, natürlich«, kam es nur trocken zurück. »Haben Sie die Kartographie fertig, um die ich Sie gebeten habe?«
»Natürlich, hier«, sagte er und öffnete seine Ledertasche, um die Materialien herauszuholen, »allerdings ist mir ein Fehler aufgefallen.«
Zum ersten mal, seit er eingetreten war blickte Caine ihn an und neigte dabei den Kopf um über ihre Lesebrille hinweg zu schauen.
»Ein Fehler? Inwiefern?«
»Nun ja, sie haben sich einfach nur verzählt, schätze ich. Das Gebiet ist nicht 200 sondern 150 Quadratkilometergroß. Aber ich nehme an das haben Sie bewusst so gemacht, aus irgendeinem genialen Grund, den ich nicht verstehe.«
Sie blickte ihn noch einen Moment länger an und wandte dann langsam ihren Kopf wieder zu ihrem Computer.
»Ich an Ihrer Stelle würde aufpassen, wann Sie zu frech werden, denn niemand ist unersetzlich.«
Eine leere Drohung, wie Noah wusste, denn um ihn zu ersetzen müsste Caine schon zwei andere einstellen, um die gleiche Arbeit erledigen lassen zu können und dafür war sie mit den Ressourcen ihrer Fakultät viel zu geizig.
»Ich will, dass Sie etwas anderes tun. Helfen Sie doch den Erstsemestern dabei, die Funde in der Sammlung neu zu etikettieren, ja? Ich habe das Gefühl, dass hinterher noch mehr Chaos da unten herrschen könnte als ohnehin schon. Danach gehen Sie in die Bibliothek und stehen den Studenten für Fragen zu Verfügung.«
»Sind Sie sicher, dass Sie keine unwichtigeren Aufgaben für mich haben, Chefin?«
Es war ihm egal ob die unübersehbare Ironie seiner Bemerkung bei ihr auf Abneigung stieß oder nicht. Ihn mit einfachsten Aufgaben abzuspeisen, nur um ihn daran zu hindern vielleicht irgendwie nützlich zu sein, das musste ein Ende haben.
»Es scheint, Ihnen fehlt der Respekt und die Dankbarkeit für Ihren Job«,
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