Kronjuwel (German Edition)
erwiderte Caine nach einer kurzen Pause, in der sie Noah mit ihrem patentierten Schräg-über-die-Lesebrille-hinweg-Blick angesehen hatte.
»Natürlich nicht, Ma’am, ich bitte um Entschuldigung. Nichtsdestotrotz würde ich liebend gerne...«
»Was Sie gerne täten, ist mir reichlich egal«, unterbrach sie ihn erneut, »Sie sind hier um die Arbeit zu erledigen, die ich seit vielen Jahren nicht mehr machen muss. Irgendwann werden Sie selbst vielleicht auch in so eine Position kommen, und Sie werden es zu schätzen wissen, jemanden wie Sie es heute sind selbst unter sich zu haben.«
Noah wusste nichts zu erwidern. Dieser kleine Ausbruch von Ehrlichkeit hatte ihn vollkommen überrascht, es war eigentlich nicht Caines Art sich über ihn oder andere derart zu äußern, noch viel weniger über Zukünftiges.
Caines Telefon klingelte, doch sie machte noch keine Anstalten den Hörer abzunehmen. Noah erwachte aus seinem Anflug einer Schock-Starre und merkte, dass Caine ihn ansah und darauf zu warten schien, dass er sich entfernte. Er presste ein knappes »Ma’am« begleitet von einem leichten Kopfnicken hervor und verließ das Zimmer. Er trat auf den Gang und schlenderte langsam in Richtung der Historischen Sammlung. Es gab keine Eile für ihn, und für einen Moment stellte er sich sogar vor wie es wäre, einfach kehrt zu machen und etwas anderes zu suchen, eine andere Aufgabe oder auch nur eine kleine Beschäftigung, die ihn vergessen lassen würde, was er eigentlich zu tun hatte. Doch wie immer wurde nichts daraus, seine rebellischen Gedanken blieben immer nur Funken, die es nicht schafften ein Feuer zu entfachen.
Es war bereits weit nach null Uhr als er einen Blick auf seine Uhr warf, das einzige Geschenk, das er zum College Abschluss bekommen hatte. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen und hatte dabei die langen Schatten der draußen stehenden Bäume durch die hohen Fenster der Bibliothek an die gegenüberliegende Wand geworfen. Noah saß noch immer über verschiedene alte Lexika gebeugt an einem langen Holztisch, der außer der kleinen Ecke davon, die er selbst beanspruchte, völlig leergeräumt war. Tagsüber fanden an diesen Tischen bis zu zwanzig Studenten auf einmal Platz, um etwas in den tausenden von Fachbüchern der Bibliothek nachzuschlagen oder einfach einen ruhigen Arbeitsplatz für ihre Laptops zu haben. Er selbst mochte es, den ersten Entwurf seiner Arbeit von Hand zu machen, bevor er dann für seine Kurse diese Notizen am Computer in eine Datei übertrug. Auch wenn er damit den technischen Trends der Studenten nicht folgte, die es sich scheinbar kaum mehr vorstellen konnten, ohne ihre Tablet Computer und Laptops zu lernen, zog er die altmodischere Arbeitsweise vor.
Zehn Tische aus dunklem Holz standen in parallelen Reihen von der Fensterseite weit in den großen Saal der Bibliothek hineinragend ordentlich sortiert im Raum. Vor einer guten Stunde hatte auch der letzte Lernende die Bibliothek verlassen, ein dunkelhäutiger Student, den Noah bereits aus einem seiner Seminare zu kennen glaubte. Er war gerade dabei gewesen, Daten und Beobachtungen, die er für wichtig hielt, aus den Büchern und Karten vor ihm auf einem Schreibblock festzuhalten, und hatte kaum bemerkt, dass er jetzt der einzig Verbliebene in der Bibliothek war, ein Gefühl, an das er sich mittlerweile jedoch gewöhnt hatte.
Manchmal fragte er sich, was die Studierenden über ihn denken mussten. Immer wieder hörte er von den verschiedensten Leuten, von anderen Dozenten bis hin zu einfachen Angestellten, dass die Seminare und Kurse, die er als wissenschaftlicher Mitarbeiter geben durfte, unter allen Lehrveranstaltungen der Fakultät die beliebtesten waren. Ob es an ihm lag oder einfach nur an der Art, wie er unterrichtete oder seine Studenten behandelte, wusste er nicht, und es war ihm auch egal. Doch irgendetwas schien er ja richtig zu machen. Und dann, quasi als Kehrseite der Medaille, traf man ihn praktisch jeden Tag bis weit nach Mitternacht mit den Aufgaben einer Hilfskraft beschäftigt in der Bibliothek oder der Fundsammlung sitzen.
Er hätte es nie zugegeben, doch es war ihm jedes Mal unangenehm, wenn einer seiner Studenten ihn so da sitzen sah. Manchmal glaubte er in ihren Blicken erkennen zu können, wie sie über ihn dachten. Als sei er nicht gut genug für höhere Ämter, als traue man ihm zu Recht nichts zu. Wenn es etwas gab, das Noah mehr als alles andere hasste, dann war es das Gefühl, jemand blicke von oben auf
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