Krúdy, G u. Szerb, A u. Szép, E
nicht darüber zu wundern, dass sich auch die Menschen und der Charakter von Nationen oft und in mancherlei Hinsicht ändern.
(1938)
Warum der Engländer so schweigsam ist
Eine gelehrte deutsche Dame hat kürzlich ein Buch mit dem Titel ›Die Psychologie der englischen Schweigsamkeit‹ geschrieben. Ich bestellte es mir umgehend, denn schon seit Langem möchte ich wissen, warum der Engländer so wortkarg ist beziehungsweise warum er denn so viel redet, wenn er doch im Grunde schweigsam ist.
Meine Erfahrung lehrt mich nämlich, dass ein Engländer, zumindest dieser spezielle Engländer, unter gewissen Umständen viel redseliger ist als die Söhne anderer Nationen. Ich beziehe mich auf den schlichteren Engländer, auf einen, den man in England mit dieser speziell geometrischen Ausdrucksweise untere Mittelklasse nennt. Und hier sollte ich noch Folgendes anmerken: In England liegt die Grenzlinie, die den einfachen Mann, also den aus der unteren Mittelschicht, von dem aus der oberen Mittelklasse trennt, viel weiter oben als bei uns. Dort rechnet man die Hälfte derer zu den einfachen Leuten, die sich hier bei uns bereits sehr große Herren dünken. Also der einfachere Engländer, so erfuhr ich, ist gar nicht schweigsam, wenn er zum Beispiel vor dem Lunch oder nach dem Abendessen an der Bar stehend sein Glas Bier genießt. Natürlich ist damit nicht so etwas wie eine Pester Bar mit Stimmungsbeleuchtung und -musik gemeint, sondern die Eckkneipe, die der Engländer treffend als Club des einfachen Mannes bezeichnet. Und in diesem Club wird dieser dann gesprächig. Er macht Bekanntschaften und erzählt nach zwei Bier seinen ganzen Lebenslauf, und zwar derart ausführlich, dass man sich ihm nur mühsam entziehen kann. Ähnliches geschieht, wenn man in England dritter Klasse reist. Das Bekanntwerden mit den Mitreisenden ist da unumgänglich, und man muss sich ihre sämtlichen familiären Sorgen anhören. Von Einsilbigkeit kann also beim einfachen Engländer keine Rede sein. Der mag nämlich Worte oder besser das Gespräch noch genauso gern wie einst seine Vorfahren zu Shakespeares Zeit.
Denn wer die wortreich fließende Sprache der Shakespeare-Dramen hört oder liest, dem wird offenkundig, dass dieser Shakespeare kein Kind einer schweigsamen Nation gewesen ist. Die britische Einsilbigkeit hat sich erst später ausgebildet. Allerdings beklagt sich schon Milton darüber, wie ungern seine Landsleute den Mund aufmachen, weil ihre lateinische Aussprache so miserabel sei, und er empfiehlt ihnen, sich bei der Bildung lateinischer Laute die Italiener zum Vorbild zu nehmen. Die Wortkargheit der Engländer muss also irgendwo in der Zeit zwischen Shakespeare und Milton angefangen haben. Das dichterische Wirken der beiden trennt lediglich ein halbes Jahrhundert, doch gerade in diese fünf Dezennien fällt die große geistige Wende in England, der Puritanismus nämlich.
Höchstwahrscheinlich sind die Wurzeln der englischen Schweigsamkeit im Puritanismus zu suchen. Bekanntlich hielten die Puritaner jeglichen Anflug von Fröhlichkeit für moralisch verwerflich, sie versagten sich lautes Lachen, verachteten selbst das kleinste Lächeln. Gewiss haben in dieser Zeit auch die sittlichen Bedenken gegen Gesprächigkeit ihre Wurzeln, ebenso die gegen zwanglose Selbstdarstellung. Lehrt uns doch schon die Bibel: »Deine Rede aber sei: ja-ja, nein-nein.«
Die Schweigsamkeit wurde also erst später zur Nationaltugend der Engländer. Mit den Büchern von Jules Verne kam dann das Bild vom wortkargen Engländer ins europäische Bewusstsein. Wir alle erinnern uns an jenen legendären Briten unserer Kindertage, der im karierten Anzug an der Reling lehnt, die sportlich-karierte Mütze auf dem Kopf, mit einer Pfeife, die er äußerst selten aus dem Mund nimmt, und auch dann nur, um
well
oder
alright
zu sagen oder sich zu einem
Wetten, dass
hinreißen zu lassen. In unserer Fantasie verschmilzt seine Figur mit der eines anderen außerordentlich populären Engländers, nämlich des geheimnisvollen Sherlock Holmes. In der Vorstellung der Leute vom Kontinent ist dieser Sherlock Holmes der wahre Brite. Phlegmatisch, einsilbig, ein Detektiv eben.
Jules Verne und Arthur Conan Doyle brachten den Briten des Viktorianischen Zeitalters, also von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ins europäische Bewusstsein. Um diese Zeit prägte sich die englische Schweigsamkeit in ihrer wahren Form aus. Vorher war der Engländer noch nicht derart einsilbig, und
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