Kryptum
die die Jahrhunderte überdauern würden. |413| Und es gibt noch etwas, was diese Gebäude gemeinsam haben, an denen die angeklagten Maurer gearbeitet hatten. Kommt mit, ich zeige es euch.«
Er stand auf und winkte die beiden jungen Leute zur Terrassenbrüstung, wo er hinunter zur Plaza Mayor deutete.
»Was machen die Leute da?« fragte David.
»Das ist der städtische Bauarbeitertrupp. Sie reißen die Pflastersteine auf. Doch das interessiert uns jetzt nicht. Nehmt einmal an, die Plaza Mayor sei das Zentrum. Die Kathedrale steht westlich davon. Genau gegenüber, nach Osten hin, seht ihr den Turm des Alkazar. Südlich davon liegt die Kirche des Convento de los Milagros, und wenn ihr den Blick über die Plaza Mayor nach Norden richtet, entdeckt ihr die Casa de la Estanca. Verbindet man diese vier Punkte miteinander, ergibt sich ein Kreuz, dessen Balken sich in der Mitte der Plaza Mayor treffen. Genau dort, wo jetzt der Krater ist.«
»Immer wieder die Plaza Mayor«, murmelte Rachel.
»Sie ist ein ganz besonderer Ort«, bestätigte der Architekt. »Schaut einmal genau hin, von der Terrasse hier kann man alles wunderbar erkennen. Auf den ersten Blick sieht Antigua aus wie ein militärisches Bollwerk, beherrscht vom Alkazar, der sich über dem höchsten Punkt der Stadt erhebt. Betrachtet man die Stadt dann näher, offenbart sich einem das ausgewaschene Gestein der Häuser, die sich um die Kathedrale ducken, jener großen Spinne, die mit ihren Beinen den ursprünglichen Stadtkern gepackt hält. Nur die riesengroße Plaza Mayor mit ihren schwarzen Schieferdächern – die ihr ein kühles, nordisches Aussehen verleihen – sorgt für etwas Harmonie, bringt etwas Ruhe in das Labyrinth der mit rötlichen Ziegeln gedeckten Häuser. Das Gewirr der engen mittelalterlichen Gassen wird durch die mächtige architektonische Muskulatur des Platzes zu einem geordneten Raum mit vollkommenen Proportionen zusammengeführt. Für unser Auge ist es schwer, alle Einzelheiten zu erfassen, das ausgeklügelte System zu erkennen, das hinter diesem architektonischen Meisterwerk steckt. Aus dem Zusammenprall zwischen dem Wirrwarr |414| von Gäßchen und jenem Wellenbrecher ist ein einzigartiger Plan erwachsen.«
»Du hast diesen Platz viele Jahre lang studiert, nicht wahr?« fragte Rachel und griff liebevoll nach der Hand des Architekten.
»Ohne die Plaza Mayor wäre Antigua ganz anders. Seit fast fünf Jahrhunderten wissen wir Maliaños nur zu gut, daß man bestimmte Viertel nicht umgestalten kann, ohne dadurch andere, wenn nicht gar das ganze Stadtbild zu schädigen. Die Plaza Mayor originalgetreu erhalten zu wollen ist keine abwegige Laune, wie einige dieser Hobbyarchäologen behaupten. Die Stadträte und Bauunternehmer, meine ich. Es ist der einzige Ort, an dem das andere, das verborgene Antigua zutage tritt. All das, was mit der Zeit verlorengegangen ist. Hat dir deine Mutter jemals erzählt, daß dies hier der Mittelpunkt der Iberischen Halbinsel ist, wo die meisten Wege zusammenlaufen?«
»Nein, das hat sie mir nie erklärt; aber sie sagte immer, dieses Land sei so etwas wie die Arche Noah von Europa.«
»Und sie übertreibt keineswegs. Wußtest du, daß hier in der Gegend noch rund siebzig Prozent aller auf dem ganzen Kontinent noch lebenden Spezies zu finden sind? Das kommt daher, daß während der Eiszeit vor über fünfzehntausend Jahren der Süden der Iberischen Halbinsel als einzige Gegend Europas ganz frei von Eis blieb. Hierher flüchteten sich die Tiere, hier wuchsen noch alle Pflanzen, und von hier aus konnten Flora und Fauna sich danach wieder in ganz Europa ausbreiten.«
»Aber du sprichst von einer Zeit vor etlichen tausend Jahren …«
»Ja, aber auch als die Temperaturen wieder stiegen, vergaßen die Tiere nie ihren einstigen Zufluchtsort, unter anderem, weil sie ihn teilweise im Winter benötigten, wenn sie über Spanien nach Afrika zogen. Und der Mensch, der von der Jagd lebte, zog hinter ihnen her. Dann, Tausende von Jahren später, in dem Maße, wie er die Tiere zähmte und zum Viehhirten wurde, wurden diese Routen zu Wanderwegen für die Viehherden |415| ; noch heute werden sie für die Transhumanz verwendet. In Spanien gibt es noch über hunderttausend Kilometer dieser Wege. Und hier in Antigua laufen sie zusammen, und mitten auf der Plaza Mayor liegt der Nullpunkt dieser Weidewege, von dem aus ihre Länge gerechnet wird. Hier zu graben kommt einer Schändung gleich; es ist so, als wühlte man in den
Weitere Kostenlose Bücher