Kryptum
Ihr von Eurem erlauchten Vater geerbt habt, war der des Königs von Jerusalem. Und heute ist die Kirche ebenso bedroht und geteilt wie damals die zwölf Stämme, wie es uns das Tridentinische Konzil wieder in Erinnerung gerufen hat. Eure Majestät braucht einen hoheitsvollen Tempel und nicht irgendeinen x-beliebigen. Und dafür bedarf es eines großen Architekten, und zwar des allerbesten …‹
Wir warfen Herrera einen verstohlenen Blick zu, doch Montano zielte mit seiner inbrünstig vorgetragenen Rede auf etwas ganz anderes ab. Mit sich überschlagender Stimme kam er zu einem für uns alle verblüffenden Schluß.
›… und dieser Architekt kann niemand anderes als Gott selbst sein.‹
|444| Es entstand eine peinliche Stille, während der sich alle Anwesenden anblickten, sprachlos über seinen Wagemut.
›Ich sage also‹, nahm Montano seine Rede wieder auf, ›welch besseren Architekten könnte man dafür finden als Gott selbst? Er hat nicht nur die Pläne für die Natur entworfen, sondern auch die für einige Dinge und Gebäude, die nach seinen Vorgaben entstanden sind, wie etwa die Arche Noah, Moses Bundeslade oder Salomos Tempel, in dem letztere aufbewahrt werden sollte. Gott selbst gab präzise Anweisungen, wie jedes Ding gebaut werden sollte: er befahl ihnen die genauen Maße und ihr Aussehen wie auch das Material und wofür ein jedes gebraucht werden sollte. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Bei derart ersonnener Baukunst stehen Architektur und Natur miteinander in Einklang, weil sie von ein- und derselben Hand geschaffen wurden. Ein solches Gotteshaus wird eine neue Jakobsleiter sein, eine von der Erde ins Himmlische Königreich führende Verbindung. Wenn sich in dem Gebäude die harmonischen Proportionen wiederfinden, auf denen die Natur beruht, wird es zu einem Abbild der geheimen Struktur des Universums.‹
In diesem Augenblick ging mir auf, was hier begründet werden sollte. Wo Geschichte und die Heilige Schrift von David und Salomo sprachen, wurden an ihre Stelle nun Kaiser Karl V. und Philipp II. gesetzt. Und wo der Tempel von Jerusalem das Volk Israels aus dem Norden und Judas aus dem Süden zu vereinen suchte, bezog sich die Rede nun auf die Protestanten des nördlichen Europas und die Katholiken der südlichen Länder. Und ganz im besonderen ging es um den Escorial, den neuen Tempel, Sinnbild für die wiedervereinte Kirche nach der Spaltung durch die Reformation. Und ein Abbild des himmlischen Jerusalem, auf das alle Geschichte hinführt.
Ich wechselte mit Herrera einen Blick, denn es war der Moment gekommen, in jenem Streitgespräch Stellung zu beziehen. Da Herrera keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, lag es wohl an mir, dies zu tun. Nur, wie sollte ich mich einbringen, wo es um einen so hohen Einsatz ging wie bei |445| jenem gewaltigen Bauwerk? Wo einhaken in einem derart ausgeklügelten Gedankengebäude, das so geschickt mit der herrschenden Lehre verknüpft war? Würde das nicht bedeuten, mich in etwas einzumischen, was mich nichts anging?
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das, was gerade am Tisch gesagt wurde. Denn Herrera wandte sich nun doch an Montano.
›Großartige Gedanken sind das, aber nächste Woche habe ich den Baumeistern neue Pläne und Teilzeichnungen zu übergeben. Woher bekomme ich bis dahin die Anweisungen von jenem höchsten aller Architekten? Welche Maße, welche Proportionen?‹
Es war dies indes keine Antwort, die der formulierten Herausforderung ebenbürtig war, vielmehr ein feiger Spielzug angesichts eines überlegenen Gegners. Der König blickte daraufhin Artal de Mendoza an. Jetzt würde zweifellos die Trumpfkarte gezogen werden, wie sie es zuvor unter vier Augen abgesprochen hatten. Die der eigentliche Anlaß für die Zusammenkunft war.
Der Mann mit der silbernen Hand hob also zu reden an.
›Seine Majestät hat Alonso del Castillo kommen lassen, damit er ihm einige arabische Schriften übersetze, die eines unserer Schiffe vor kurzem erbeutete, als es ein Berberschiff auf der Überfahrt von Melilla nach Algier enterte.‹
Nach dieser ausführlichen Vorrede ließ sich der Moriske nicht lange bitten. Nachdem er sich der Erlaubnis des Königs versichert hatte, erklärte er:
›Besagte Kodizes beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Islam. Ihre zweimal gefalzten Pergamentbogen liegen zwischen mit Velin eingeschlagenen Buchdeckeln, die mit allerlei Beschlägen und Kupfernägeln verziert sind. Auch entdeckte ich noch Reste von
Weitere Kostenlose Bücher