Kryptum
Bändern, welche die Bücher zusammenhalten sollten. Als ich eines davon näher untersuchte, um zu sehen, wie die Bänder mit den Buchdeckeln verbunden waren, bemerkte ich, daß das Velin, mit dem die Holzdeckel bespannt waren, zu einem sehr viel älteren Kodex gehören mußte. |446| Nachdem ich die Bänder aufgetrennt und den Einband vorsichtig von den Deckeln gelöst hatte, lagen vor mir auf dem Tisch ausgebreitet Pergamentbogen, die zur
Sarazenischen
Chronik
gehörten, der ältesten und zuverlässigsten Aufzeichnung der Eroberung Spaniens durch die maurischen Feldherrn, Tāriq ibn Ziyād und Musa ibn Nusayr, und was mit ihnen und König Rodrigo, dem letzten Gotenkönig, geschah. Und wonach sie in Spanien suchten. Wohl hatte ich in der Alhambra schon einige Abschriften von Abschriften von Fragmenten besagter
Chronik
gesehen. Doch waren sie sehr wirr und wenig vertrauenswürdig, obwohl sie in gewissen Kreisen Verbreitung gefunden hatten. Diese Pergamente hier sind meiner Ansicht nach jedoch eine nahezu originalgetreue Abschrift, auch wenn etliche Seiten fehlen.‹
Daher also stammten jene alten Pergamentbogen, die Herrera und ich in der Bibliothek entdeckt hatten. Als der Moriske erklärte, die Bände trügen allesamt den Namen ihres Vorbesitzers, Rubén Cansinos, fragte ich mich, was der Mann mit der silbernen Hand wohl über diesen alten Mann aus Fes wußte und was er dem König erzählt hatte. Kannten die beiden die Geschichte des Pergaments und wußten sie, daß Cansinos noch immer den zwölften Keil besaß, da er nicht zu dem Treffen der Geschworenen in Konstantinopel erschienen war? War ihnen bekannt, daß er der letzte Überlebende der Verteilung war und somit der letzte, der das Pergament in seiner Gänze gesehen hatte? Wußten sie, daß es Jahrhunderte zuvor von Azarquiel in Fes entdeckt worden war? Und wie wollte Artal de Mendoza es bewerkstelligen, all das als königliche Mission darzustellen, so geheim sie auch sein mochte, ohne sein doppeltes oder gar dreifaches Spiel aufzudecken? Zwar verfügte er über ein dichtes Netz von Spionen an der spanischen Küste und vor allem in der Berberei, doch reichte sein Arm bis nach Fes, ins Innere des Königreichs Marokko?
Diese und andere Fragen stellte ich mir – schließlich würde ich mich auf ein gefährliches Terrain begeben, wenn es an mir wäre, meine Einschätzung kundzutun –, als Philipp II. sich in |447| Erwartung unserer Bewertungen des Funds vernehmlich räusperte. Zuerst äußerte sich der Bibliothekar Montano, der in jenen Sprachen und Sachgebieten gleichermaßen bewandert war.
›Ihr habt diese Pergamente ebenfalls gelesen, nicht wahr? Und? Seid Ihr der gleichen Auffassung wie Alonso del Castillo?‹ fragte ihn der Monarch.
›Das bin ich, Eure Majestät‹, bestätigte Montano.
›Schenkt Ihr ihnen Glauben?‹
›Eure Majestät, ich denke, daß sich in der
Sarazenischen
Chronik
Wahrheit und Lüge zu gleichen Teilen vermischen, wie es bei solchen Legenden üblich ist. Doch es gibt auch noch andere Berichte, die ebenfalls von einem Schatz der Goten sprechen, den sie auf ihren Plünderzügen erbeuteten. Insbesondere in Rom, wo Alarich 410 einfiel. Hierauf brachten die Goten den Schatz nach Toulouse. Und von dort nach Antigua, als sie die Stadt gut anderthalb Jahrhunderte später zu ihrer neuen Hauptstadt machten. Für das, was uns in diesem Disput interessiert, reicht es zu wissen, daß zu dem Schatz, den Alarich einst in Rom erbeutete, in der Tat auch eine Truhe aus Salomos Tempel gehörte, welche sich der römische Kaiser Titus im Jahre 70 bei der Eroberung Jerusalems aneignete.‹
›Ihr denkt also, daß jener Schatz aus Salomos Tempel durchaus in unserem Reich, und zwar in Antigua, zu finden sein könnte?‹ wollte Philipp II. wissen.
›Es liegt im Bereich des Möglichen, Eure Majestät.‹
›Wenn sich der Schatz aus Salomos Tempel also in Antigua befindet, wäre es dann nicht angebracht, den Escorial in dessen Rang zu erheben, indem wir seinem Vorbild nacheifern?‹ Philipp II. sah uns nun alle fragend an.
Eine erwartungsvolle Stille trat ein. Noch war ich mir unschlüssig, ob ich das Wort ergreifen sollte, doch mir schien, daß meine große Stunde gekommen war; wenn ich es nicht täte, würde ich mich sehr verdächtig machen. Es war meine einzige Gelegenheit, die Protektion des Königs zu erlangen, weshalb ich mit größter Umsicht vorgehen mußte.
|448| ›Eure Majestät, mit Verlaub‹, sagte ich, ›ich würde Alonso del
Weitere Kostenlose Bücher