Kryptum
mit dem Zentrum der Kirchenfassade verbinden, befinden wir uns genau auf der Längsachse des ganzen Gebäudekomplexes. Seht ihr die Statuen dort vor der Basilika? Sie geben dem Hof seinen Namen: Es sind die Könige von Judäa. Und wer ist in der Mitte? David und Salomo. Um das zu verstehen, gehen wir besser hinüber.«
Der Agent ließ erleichtert die Kamera sinken, als sie sich auf den Weg zum Patio de los Reyes machten. Dort herrschte ein lebhaftes Treiben, so daß seine Filmerei weniger auffallen würde.
Stand man erst einmal im Innenhof, sah er noch viel majestätischer aus. Die hohen, massiven Türme, die Kuppeln, Bögen und Säulen:alles war darauf ausgerichtet, die Einmaligkeit der Statuen hervorzuheben.
»Hier seht ihr die sechs Könige, die an der Errichtung, der Instandhaltung und dem Wiederaufbau des Tempels von Jerusalem mitwirkten«, erläuterte der Architekt. »Als wir letzten Montag herkamen, bemerkte Sara:›Wie auf dem Gemälde, das wir gerade in der Bibliothek gesehen haben, steht Salomo auch hier genau auf der Längsachse des Gebäudes. Er und sein |465| Vater, König David, halten Zepter in der Hand, mit denen sie ins Innere der Basilika deuten.‹ Und habt ihr eine Ahnung, worauf sie zeigen?« Maliaño hob seinen Stock. »Das werdet ihr gleich sehen. Achtet auf das Fenster in der Mitte, zwischen den Zeptern von David und Salomo, und laßt uns in die Kirche gehen.«
In der Basilika lenkten sie ihre Schritte zum Chorgewölbe, das ebenfalls auf der Achse des Klosterkomplexes lag. Es war von einem weitläufigen Fresko mit vielen Figuren bedeckt und wurde vom Licht des Fensters beleuchtet, das sie gerade von außen gesehen hatten.
|466| »Das ist es, worauf David und Salomo mit ihren Zeptern zeigen«, erklärte Maliaño. »Das Gemälde stellt das Paradies dar. Ganz oben seht ihr die Heilige Dreifaltigkeit, links davon die Jungfrau Maria und rechts den knienden Philipp II. Umgeben sind sie von den himmlischen Heerscharen.«
»Irgendwie befremdend.«
»Es wirkt befremdend, weil wir es mit dem Bild vom Jüngsten Gericht vergleichen, das wir aus der Sixtinischen Kapelle im Vatikan kennen. Merkwürdig ist nur, daß man in der Bibliothek Michelangelos Fresken zum Vorbild genommen hat und hier nicht, stimmt’s?«
»Und woran liegt das deiner Auffassung nach?«
»Deine Mutter glaubte, das sei auf Philipps II. Wunsch nach Klarheit zurückzuführen. Eine so mittelalterliche Darstellung erklärt sich nur, wenn man etwas vermitteln möchte, ohne auch nur den geringsten Raum für irgendeinen Zweifel zu lassen.«
»Und was ist dieses Etwas …?« schaltete sich David ein.
»Seht ihr, was unter der Dreifaltigkeit ist?«
»Sieht aus wie ein offenes Buch«, mutmaßte Rachel.
»Es könnte tatsächlich ein Buch sein; deine Mutter dachte, es gebe eine Art Dialog zwischen diesem Gemälde und den Fresken und Büchern der Bibliothek. Nie zuvor hatte jemand eine Bibliothek zum zweitwichtigsten Raum eines Klosters erklärt. Erst Herrera wagte das. Aber was ihr dort seht, ist kein Buch. Es ist ein Stein.«
»Ein Stein?«
»Genauer gesagt, ein würfelförmiger Stein, der so gezeichnet wurde, daß seine Außenkante exakt auf die Achse des Gebäudes fällt. Mehr noch, dieser Stein befindet sich genau im Zentrum des ganzen Klosters. Er ist sein Mittelpunkt. In der traditionellen Ikonographie müßte sich an dieser Stelle die Erdkugel befinden. Aber sie ist durch diesen Grundstein des Escorial ersetzt worden. Deine Mutter glaubte, daß Babel und der Tempel Salomos durch den Grundstein miteinander in Dialog treten: das Heilige Wort und der Heilige Stein. Deshalb sieht er hier wie ein offenes Buch aus. Sara hatte sich einen |467| höchst mysteriösen Satz des offiziellen Chronisten vom Escorial, Fray José de Sigüenza, notiert.«
»Unter dessen Papieren mein Vater einen der Pergamentkeile gefunden hat«, setzte David hinzu. »Und zwar den, welchen Philipp II. bei seinem Tod in Händen hielt. Und auf dessen Rückseite in seiner eigenen Handschrift
Der letzte Schlüssel
und das Wort ETEMENANKI geschrieben standen.«
»Genau. Fray José de Sigüenza schreibt, daß der würfelförmige Stein dort oben
›das Zentrum ist, wo alle Linien dieses Bauwerks
zusammenlaufen, das Ziel, wo alles sich ordnet und verbindet‹.
Als Sara den Stein erblickte, flüsterte sie ganz andächtig dieses Wort, ETEMENANKI, und ließ ihn dann für das Cover ihres Buchs fotografieren. Und sie erklärte mir, daß dies der ursprüngliche Name des
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