Kryptum
die dieser Rubén Cansinos entwendet hatte. Die ersten Tage des Wartens war er sehr angespannt gewesen, doch dann war er nachlässig und träge geworden, um zum Ende hin wieder große Beklommenheit zu verspüren. Bei ihren unaufhörlichen Streifzügen durch die Gassen der Stadt, während deren sie mit Gott und der Welt plauderte, hatte Tigmú sicher über Gebühr geplappert.
»Jedenfalls«, sagt er zu seiner Tochter Ruth, »kam Tigmú eines schönen Tages zu dem verfallenen Palast geeilt, wo ich Rubén Cansinos zu besuchen pflegte, und warnte mich davor, in die Herberge zurückzukehren, weil ein paar Soldaten nach mir suchen würden, um mich zu verhaften. Das Nötigste für die Reise brachte sie mir gleich mit.
Ich stimmte zu, unverzüglich zu fliehen, obgleich es sehr gefährlich sein würde, mich ohne jeden Schutz auf den Weg zu machen. Das Mädchen wollte mit mir kommen, aber ich erklärte ihm, daß das viel zu riskant sei. Zudem hatte ich ihr ja auch versprochen, ihr die Freiheit zu schenken, und jemand mußte auch nach Cansinos sehen. Ich versuchte dem Greis noch eine Geldsumme für seinen Unterhalt in die Hand zu |502| drücken, was er jedoch mit den Worten zurückwies, er erhalte durch die Spenden für seine Störche viel mehr Geld, als er überhaupt ausgeben könne.«
Randa hält erneut inne, denn er kann seiner Tochter schließlich nicht die Gründe erklären, warum Tigmú sich nicht von ihm trennen wollte. Sie hockte sich in den Schatten einer Säule. Sie weinte indes nicht. Es war viel schlimmer: In der Sprache ihrer Mutter sang sie ein so tieftrauriges Lied, daß ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Als Cansinos ihn wie vom Schlag gerührt dastehen sah, raunte er ihm erklärend zu:
»Ihre Vorfahren sangen eigentlich immer im Chor. Ein
geheimes
Lied aber war jedem von ihnen vorbehalten, das er nur sang, wenn er allein war, denn sollte jemand anderes es hören, könnte er in seine Seele eindringen und sie gefangennehmen.« Als Randa noch immer nicht reagierte, fügte der Greis hinzu:
»Sie schenkt Euch gerade ihre Seele. Das möchte sie Euch damit sagen.«
»Verzeiht, aber ich verstehe nicht.«
»Tigmú bedeutet Euch damit, daß sie und Ihr eins geworden seid.«
Da erinnerte sich Randa an die vielen Nächte, in denen das wirklich so gewesen war, und begriff endlich.
»Sie erwartet ein Kind von Euch«, bestätigte Cansinos. »Aber wenn Ihr hierbleibt, werdet weder Ihr noch sie noch das Kind überleben. Wenn Ihr auf Tigmús Wohl bedacht seid, müßt Ihr unverzüglich aus dieser Stadt verschwinden.«
Als er Fes so heimlich wie ein Dieb verließ, hallte in ihm noch das herzzerreißende Klagelied des Mädchens nach, das aus unendlicher Ferne zu kommen schien und wohl von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Und als er ein letztes Mal von einem Hügel aus auf die Stadt zurückblickte, überkam ihn das schmerzliche Gefühl, daß ein Teil seines Lebens, die Jahre der Unschuld unwiederbringlich dahin waren …
Raimundo Randa nimmt den Faden seiner Erzählung an |503| dem Punkt wieder auf, als er sich nach mehreren Tagen nächtlichen Wanderns endlich einer Karawane anschließen konnte, womit die Schrecken der Reise bis zum Erreichen der Küste ein Ende hatten.
»Wir konnten das Meer schon riechen, und vor uns lag nur noch eine Hügelkette«, fährt er fort, »da mußten wir noch durch eine tiefe Schlucht. Es galt einen reißenden Fluß zu überqueren, der durch eine felsige Klamm floß. Die einzige Verbindung bestand aus zwei dicken Seilen, die zwischen hohe Träger an beiden Ufern gespannt waren und an denen ein großer Korb ausWeiden- und Röhrichtgeflecht hing. Bis zu einem Dutzend Personen paßten hinein, die alle an ein paar Seilrollen ziehen mußten, bis der Korb die andere Seite erreicht hatte.
Die ersten von uns überquerten die Schlucht ohne große Schwierigkeiten. Als ich an der Reihe war, mit der letzten Fuhre, waren wir noch dreizehn. Um Zeit zu sparen, wollten wir alle auf einmal übersetzen. Sei es wegen der Unglückszahl oder auch weil der Korb überladen war, jedenfalls brach auf halber Strecke der Boden des Korbs weg, und bis auf einen anderen Mann und mich stürzten alle in die Tiefe der Klamm, wo die reißende Strömung über spitze Steine gen Tal schoß. Wir beide hingegen klammerten uns an den Resten des Korbs fest und schrien um Hilfe, was uns nur wenig nutzte, denn bei dem Versuch, uns zu retten, zerrten die anderen so heftig am Seil, daß sich der Träger am
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