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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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nicht mal die Zeit, mich umzusehen, da stand er auch schon mit seinem Pferd vor der Moschee, und wir ritten den Fluß hinab. Ich wußte wenig über unser Ziel, nur, daß wir auf das Sumpfgebiet zuhielten, wo Euphrat und Tigris zusammenfließen und Mesopotamien, das Zweistromland, bilden. Yunan war die ganze Zeit über sehr wachsam und vergewisserte sich immer wieder, daß uns niemand folgte, bis die Stadt außer Sichtweite war.
    Nach wenigen Tagesritten ließen wir unsere Pferde in der Obhut einer Familie zurück, dieYunan gut zu kennen schien, und er hieß mich in eine flache, leichte Barke aus geflochtenem Schilfrohr steigen. Er lenkte die Barke mit einem einzigen Ruder, das er geschickt einsetzte, um die vielen tückischen Stromschnellen zu umfahren.
    Im Flußtal pulsierte das Leben. Der Frühling schien hier über Nacht ausgebrochen zu sein. Zu unserer Rechten sah ich zunächst noch karge Hügel, die jedoch bald einem Kanalnetz mit knarrenden Schöpfrädern wichen. Dann kamen Palmenhaine, in deren Schutz Orangen-, Zitronen-, Feigen- und Granatapfelbäume wuchsen und aus denen das Flöten der Bülbüls bis zu uns herunterklang. Nahe dem Flußbett, dort, wo das fruchtbare Land in morastiges Terrain mit Binsen und Schilfrohr überging, war das behäbige Schnäbeln der Kraniche zu vernehmen, und ich sah Schwalben dicht über das Wasser flattern.
    Yunan hingegen konnte den Liebreiz der Landschaft nicht genießen. Der Fluß war zu dieser Jahreszeit stark angeschwollen, was unsere Fahrt sehr gefährlich machte. Der Strom floß schnell dahin und war voller Strudel und Hindernisse, die unsere Barke leicht zum Kentern bringen konnten.
    |616| Der Kalligraph schien sich erst etwas zu entspannen, als vor uns die undurchdringlichen Sümpfe auftauchten, die sich zwischen dem Euphrat und dem Tigris, dem Herzen des Zweistromlandes, erstrecken. Die Wasserwege waren hier so schmal und der Pflanzenwuchs war so üppig, daß es mir schleierhaft blieb, wie er sich in diesem Labyrinth aus dornigen Sträuchern, Schlingpflanzen und Röhricht zurechtfand. Zweifellos orientierte er sich an Dingen, die für mich unsichtbar blieben. Die Barke schlängelte sich nur schwerfällig durch die Rohrkolben und das Zypergras mit seinen messerscharfen Blättern.
    Da bemerkte ich, daß Yunan auf einmal darauf achtete, ein Buschmesser griffbereit zur Hand zu haben. Ab und zu sahen wir Wildschweine in der Erde wühlen oder Meuten von Wildhunden, die uns lange Zeit bellend am Ufer nachliefen. Schließlich breitete sich Stille aus, nur unterbrochen vom Eintauchen des Ruders und dem Geräusch des Wassers, das sich am Bug unserer Barke brach. Bis sich das Gestrüpp über unseren Köpfen zu einem dunklen Tunnel schloß. Die Vegetation war hier so dicht, daß sie geradezu unnatürlich wirkte. Yunan konnte mit dem Ruder nichts mehr ausrichten. Dann wurde die Strömung plötzlich reißender. Wir waren dem Fluß hilflos ausgeliefert.
    Doch plötzlich gewahrten wir vor uns gleißendes Licht, und kurz darauf trieb unser Boot auf ein offenes Gewässer hinaus. Vor uns lag eine Lagune, in deren strahlend blauem Wasser sich der wolkenlose Himmel spiegelte. Sie war so groß, daß es Wind und Wellen darauf gab. Ich konnte nicht glauben, was meine Augen da sahen: Im Herzen des Sees, inmitten dieser unermeßlich weiten Wasserfläche, erhob sich, verborgen im mehrere Mann hohen Schilfrohr, eine kleine Siedlung. Sie wurde geschützt von im Grund verankerten Palisaden, hinter denen sich die länglichen Hütten drängten, die aus Palmenstämmen, Schilfrohr und Binsen erbaut waren.
    ›Hausen hier die Flüchtlinge?‹ fragte ich.
    ›Nur diejenigen, die die Verfolgung überlebt haben‹, antwortete Yunan.
    |617| Von unserer Barke aufgeschreckt, erhob sich ein Schwarm Stockenten quakend in die Lüfte. In einem großen Bogen umfuhren wir eine Herde reizbarer Wasserbüffel. Als wir uns der Siedlung näherten, konnte ich erkennen, daß sie sich auf einem Teppich aus Binsen, Gänsedistel, Minze, Laichkraut und Seidelbast erhob, unter dem armdicke Wurzeln, Algen und allerlei wogende Wasserpflanzen erkennbar waren und zwischen denen leise murmelnd Luftblasen aufstiegen. Ein paar Hühner pickten zwischen den Hütten, andere waren auf die Dächer geflattert.
    Der Scheich des Dörfchens empfing uns im
mudhif
, wie sie die für Besuch bestimmte Hütte nannten, die aus unheimlich hohen Schilfrohrgarben errichtet war. Das Innere lag angenehm im Halbdunkel und war so geräumig, daß man den

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