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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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Eindruck hatte, in einer unserer Kirchen zu stehen. Yunan hatte mir erklärt, daß dieser Mann der einzige Mensch war, mit dem sich Gabbeh gelegentlich traf. Als ich dem Scheich mein Anliegen erklärte, benutzte er dieselbe Formulierung, die ich schon von dem Kalligraphen gehört hatte.
    ›Dann solltet Ihr ihn aufsuchen. Ich bezweifle allerdings, daß er Euch weiterhelfen wird.‹
    ›Und wo kann ich ihn finden?‹
    ›Das weiß man nie so genau. Habt Ihr unsere Siedlung gesehen? Wir haben sie selbst im Grund dieser Lagune verankert, aber eigentlich ist es eine schwimmende Insel. Hier im Sumpf gibt es mehrere, die mal hierhin, mal dorthin treiben. Gabbeh lebt auf einer davon.‹
    Unsere Unterhaltung zog sich noch eine ganze Weile hin, während man uns zu Ehren ein Mahl zubereitete. Danach verabschiedeten wir uns von unserem Gastgeber und stiegen wieder in unser Boot, mit dem wir die Palisaden umrundeten, um auf die andere Seite der Siedlung zu gelangen. Gelenkt von den Rufen der Wachtposten, hielten wir von dort aus auf die Mündung eines Wasserwegs zu, der sich hinter der Lagune im tiefen Sumpf verlor. Lange Zeit fuhren wir ihn entlang, während links und rechts von uns die Vegetation immer spärlicher |618| und der Kanal immer schmaler wurden, so daß wir irgendwann an Land gehen mußten. Yunan wies mir einen Pfad, auf dem wir zu einer Lichtung liefen, die mit einer schwärzlichen Salzkruste bedeckt war. Unbekümmert wollte ich sie neben Yunan schon überqueren, da stieß der Kalligraph einen warnenden Schrei aus.
    ›Halt! Folgt genau meinen Spuren! Weicht bloß keinen Schritt davon ab.‹
    ›Was ist das? So etwas Ähnliches wie Treibsand?‹ fragte ich.
    ›Viel schlimmer noch. Schaut hin.‹
    Mit beiden Händen hob er einen dicken Stamm auf und ließ ihn neben mir fallen. Das Holz durchbrach die Salzkruste, und eine dunkle, ölige Masse spritzte auf meine Füße. Der Stamm versank sofort in den Tiefen.
    ›Dieses Moor hat schon ganze Büffel verschluckt‹, erklärte mirYunan.
    Nachdem wir dieses gefährliche Terrain überwunden hatten, erstreckte sich vor uns ein Palmenhain, der sich an einen Flußarm schmiegte. Dort, auf einer Art Insel am Wasser, stand auf Holzpfählen eine Hütte. Nur das Rauschen des Windes im Schilfrohr durchbrach die Stille. Der Ort strahlte eine große Ruhe aus. Yunan schien nach jemandem Ausschau zu halten.
    Nicht lange darauf erschien in der Tür der Hütte ein schlanker Mann mit einem schon leicht ergrauten Bart. Kaum, daß er ihn sah, trat der Kalligraph auf ihn zu, begrüßte ihn mit großem Respekt und zeigte dann auf mich. Ich sah, wie der Bärtige nickte. Seine gleichmäßigen edlen Gesichtszüge waren von der Sonne braungebrannt. Seine ganze Erscheinung war sehr gepflegt; er trug eine leichte Tunika aus weißer Wolle und auf dem Kopf einen Turban in derselben Farbe. In der Hand hielt er ein Bündel Schilfrohr.
    ›Seid Ihr Gabbeh?‹ fragte ich ihn ehrerbietig.
    Er nickte wieder und lud uns ein, ihm in sein Haus zu folgen. Dort legte er das Schilfrohr in eine Ecke und deutete dann auf ein paar Kissen, wo wir uns niederlassen sollten.
    Ich reichte ihm das Pergament, das er ehrfurchtsvoll in Augenschein |619| nahm, wenn er sich auch nicht sonderlich überrascht zeigte. Zum ersten Mal traf ich jemanden, der dessen Bedeutung zu kennen schien und dennoch keine Miene verzog. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um ihm den Grund meines Besuchs zu erklären, da hieß er mich mit einer Handbewegung schweigen.
    Behutsam nahm er eine Rohrflöte in die Hand, die man dort
nay
nennt, und begann auf ihr zu blasen, bis er eine Melodie fand, die so betörend war und so vollkommen zu diesem Augenblick und diesem Ort paßte, daß keine andere mehr dafür vorstellbar war, und aus der ebenso das Ried herauszuhören war wie der Wind, der es wiegte, und der Vogel, der auf dem schaukelnden Röhricht saß, alles Teil eines einzigen ergreifenden Klageliedes.
    Er spielte lange und derart andächtig, daß er sich nicht mehr hier neben uns zu befinden schien, sondern an irgendeinem fernen Ort in einer fernen Zeit. Schließlich ließ er seine Musik in sanften Wellen verebben und öffnete die Augen.
    ›Der Klang einer
nay-
Flöte verkörpert den göttlichen Odem des Schöpfers. Mit ihm, dem Allmächtigen, will sie sich vereinigen. Deshalb besingt sie den Trennungsschmerz von dem Rohr, aus dem sie geschnitten worden ist, so wie die Seele an der Trennung von ihrem Ursprung leidet. Der Dichter sagt, wir alle

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