Kryptum
und dich wiederzusehen: Eine so weite Reise mußte euch beide notgedrungen in Gefahr bringen. Wenn ich meine Mission nicht bald erfüllte, würde man meine Befähigung und, |622| schlimmer noch, meine Loyalität in Zweifel ziehen und schwere Verdächtigungen gegen mich erheben.
Ich hatte unzähligen Gefahren getrotzt, um bis hierher zu gelangen. Deshalb dachte ich, mir könnte nichts Schreckliches widerfahren, was das bisher Dagewesene noch übertraf, nachdem ich Galeerensklave gewesen war, Stürme überstanden und Meere und Wüsten bereist hatte, den Scharmützeln mit königlichen Spionen entkommen war und Giftmischern und Fanatikern die Stirn geboten hatte. Doch ich sollte mich einmal mehr täuschen. Noch standen mir Hindernisse bevor, die unüberwindlich schienen. Und hier, vor diesem Mann – in dessen Händen der Schlüssel zu jenem Labyrinth und damit auch zu meinem Schicksal lag –, fühlte ich mich ihm so ausgeliefert, daß ich fast all die überstandenen Gefahren vorgezogen hätte.
Da war wenigstens alles sehr schnell gegangen, und ich hatte mich immer noch irgendwie verteidigen oder zwischen zwei Dingen wählen können. Die Abhängigkeit von Gabbeh machte mich hingegen völlig wehrlos. Am schlimmsten war, daß er meine Gemütslage sofort erfaßt hatte, und fast hatte ich das Gefühl, daß er sich um so mehr Zeit ließ, je mehr ich ihn zur Eile trieb. Ich brauchte lange, bis ich begriff, daß er gar nicht anders handeln konnte, denn Gabbeh befolgte Gesetze, nach denen er sich auch selbst zu richten hatte. Er
durfte
jene Geheimnisse nicht dem erstbesten enthüllen, der behauptete, ihrer zu bedürfen. Letzten Endes hing er ebensosehr wie ich, wenn nicht sogar noch mehr, von jenem rätselhaften Labyrinth ab, das aller Welt seinen Willen aufzwang und uns seinen Zielen unterwarf.
Ich mußte also warten, bis er das Schilfrohr für trocken genug erachtete. Erst dann trug er das Bündel nach Hause, schlitzte die Rohre auf, schliff und polierte sie und wählte die aus, die mir während meiner Lehrzeit als Schreibfedern dienen sollten. Und mit denen er mich auf die Probe stellen würde.
Er holte ein Lederfutteral hervor und rollte es auseinander. Zum Vorschein kamen seine Instrumente, die Messerklinge |623| zum Schneiden der Rohre, eine Schere und der Stichel. Er trennte die Blätter vom Schaft, beschnitt ihn und suchte anschließend den besten davon aus. Nachdem er das Rohr lange gedreht und gewendet hatte, nahm er es in seine linke Hand und vollführte behutsam einen schrägen, sauberen Schnitt. Dann konzentrierte er sich, um die mittige Kerbe ins Rohr zu schneiden, erklärte mir aber vorher noch folgendes.
›Es darf keine einzige Faser des Rohrs durchtrennt werden. Der Schnitt muß parallel zu seinen Zellwänden erfolgen, denn in dieser Kerbe soll sich die Tinte sammeln. Nur so wird sie beim Schreiben gleichmäßig herausfließen. Und man muß genau die Mitte treffen, damit beide Hälften gleich lang sind. Sonst gerät die Hand aus dem Gleichgewicht.‹
Anschließend nahm er das Rohr in die rechte Hand und fuhr mit Zeige-, Mittelfinger und Daumen prüfend über den Schaft.
›Das wird eine gute Feder‹, versicherte er zufrieden. ›Ihr müßt gut darauf aufpassen, damit sie so bleibt und nicht abbricht.‹
Anschließend nahm er ein Stück Papier und glättete es mit einem Achatstein. Er griff nach dem Stichel und zog mit einem hölzernen Lineal nahezu unsichtbare Hilfslinien. Dann teilte er das Blatt in zwei Hälften, reichte mir eine davon und verkündete:
›Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Tut es mir nach.‹
Er setzte sich auf seinen Teppich und befestigte das Papier auf einem Brett, das ihm beim Schreiben als Unterlage dienen sollte, und legte es auf seine Knie.
›Um ein wirklich guter Kalligraph zu werden, muß man früh anfangen, wenn möglich von Kindesbeinen an. Dafür ist es für Euch zu spät. Ich werde mich aber bemühen, Euch zumindest die Grundlagen unserer Kunst beizubringen, damit Ihr erkennen könnt, was sich hinter diesem Pergament verbirgt. Ohne diese Lektionen werdet Ihr das nie verstehen. Niemand darf in die Geheimnisse von ETEMENANKI eingeweiht werden, der diese Prüfung nicht bestanden hat.‹
|624| Er tauchte die Spitze der Feder vorsichtig in die Tinte, damit nicht zuviel daran hängenblieb.
›Macht es mir nach‹, sagte er zu mir, während er die Schreibfeder hochhielt. ›Ihr werdet Euch gefragt haben, warum die Güte des Schilfrohrs und dessen Zuschnitt so wichtig
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