Kryptum
ganz egal, wieviel Wasser zwischen ihren Ländern liegen mochte.
Angespornt von der Entdeckung dieses Gemäldes, fiel es mir nicht weiter schwer, das Labyrinth freizulegen, das sich direkt darunter befand, zu Füßen der Stelle, die dem Kalifen vorbehalten war. Ein herrliches Mosaik mit klar ausgearbeiteten |613| Linien, die haargenau mit denen auf meinem Pergament übereinstimmten.
Es verblüffte mich, wie leicht sich die Keile ineinanderfügen ließen, wenn man einmal ihre genaue Anordnung kannte. Das Ergebnis war ein Quadrat, ganz wie Rubén Cansinos es erklärt hatte, als ich ihn in Fes nach der ursprünglichen Form des Pergaments fragte. Die Linien des Labyrinths waren streng geometrisch im rechten Winkel zueinander angeordnet und folgten allesamt einem Muster, das ich ohne jenes Mosaik vor Augen niemals richtig hätte zusammenfügen können.
Aber Abbas, der Kalligraph aus Mekka, hatte behauptet, daß es obendrein eine Folge von Wörtern darstellte. Ich betrachtete es deshalb lange, doch obwohl ich mich sehr anstrengte, in den Linien irgendwelche arabischen Buchstaben zu erkennen, offenbarte sich mir nicht, welche Botschaft sich in dem Labyrinth verbarg. Nur der berühmte Gabbeh schien befähigt zu sein, diese Schrift zu entschlüsseln. Und um seinen geheimen Aufenthaltsort zu erfahren, mußte ich in das am Ufer des Euphrat gelegene Kufa reisen, um dort beim Kalligraphen der Großen Moschee mit dem Empfehlungsschreiben seines Amtsbruders aus Mekka vorstellig zu werden.
Meine Führer suchten diesmal bequemere und sicherere Wege aus, die entlang von Zeltstädten der Nomaden verliefen, bis wir eines Tages die erste Oase mit frischem Wasser erreichten, das klar und süß war, ganz anders als die schlammige, brackige Brühe, mit der wir uns bis dahin hatten begnügen müssen. Die Oase war der erste Vorbote des großen Flusses. Nachdem wir einen sanften Hügel erklommen hatten, erstreckte sich vor uns eine ausgedehnte Hochebene, auf der unzählige Ziegen friedlich grasten. Als wir den Rand des Hochplateaus erreichten, riß einer meiner Begleiter die Arme in die Höhe und rief:
›Al-Furat!‹
So nennen die Araber den Euphrat. Das Tal, durch das sich der lehmige Fluß schlängelte, lag in seiner ganzen Breite vor uns und bot unseren müden Augen die sattesten Grüntöne, die |614| man sich nur vorstellen konnte. Das Gefühl von Feuchtigkeit und blühendem Leben gab uns neue Kraft, so daß wir unsere Reittiere antrieben und schon kurz darauf in Kufa einritten, wo mich meine Begleiter zur Großen Moschee führten, bevor sie sich von mir verabschiedeten, um ihre Reise nach Bagdad fortzusetzen.
Dort fragte ich nach dem Kalligraphen Yunan und übergab ihm Abbas’ Empfehlungsschreiben. Nachdem er es aufmerksam gelesen hatte, hob er den Kopf.
›Aus welchem Grund wünscht Ihr Gabbeh zu sprechen?‹
Da ich nicht riskieren wollte, daß er mir eine Abfuhr erteilte, legte ich die zwölf Keile des Pergaments in der richtigen Reihenfolge vor ihm auf den Tisch. Nach mir war er der erste Mensch, der es wieder zusammengesetzt erblickte. Er machte große Augen. Dann betrachtete er es eingehend, strich vorsichtig mit dem Daumen über die Linien. Danach drehte er jeden einzelnen Keil um und kratzte mit dem Fingernagel über seine Rückseite, um die Beschaffenheit des Gewebes zu überprüfen. Unweigerlich hielt er inne, als er zu dem Fragment kam, auf dem ETEMENANKI geschrieben stand. Seine Augen waren nun noch größer geworden.
›Ich sehe schon‹, sagte er, ›dieses Pergament müßt Ihr ihm schicken.‹
Augenblicklich riß ich es ihm aus den Händen und sagte bestimmt:
›All diese Fragmente zusammenzubringen hat mich das halbe Leben gekostet. Seit das erste in meinem Besitz ist, habe ich es nicht einen Augenblick aus der Hand gegeben. Jetzt gedenke ich das noch viel weniger zu tun. Ich selbst werde es Gabbeh bringen.‹
›Ihr wißt nicht, was Ihr da sagt. Seid Ihr willens, Euch außerhalb des Gesetzes zu bewegen?‹
›Das bin ich‹, behauptete ich.
›In diesem Fall werde ich selbst Euch begleiten. Ich bezweifle zwar, daß er Euch weiterhelfen wird. Aber das ist dann Eure Angelegenheit …‹
|615| Erneut war ich über die unverhoffte Wirkung erstaunt, die das Labyrinth auf jeden auszuüben schien, der es erblickte. Yunan begann unverzüglich sein Bündel zu schnüren, und sobald er damit fertig war, bat er mich, kurz zu warten.
›Je weniger man Euch sieht, desto besser. Ich bin gleich zurück.‹
Mir blieb
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