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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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hätten diese Musik schon im Paradies gehört, weshalb durch die
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etwas von ihr in unsere Erinnerung zurückkehre.‹
    Dann erklärte er mir, daß die
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die Macht habe, in uns eine nie verheilte Wunde wieder aufzureißen, die Narbe der Vergangenheit, in der wir noch eins waren mit den Steinen, dem Wasser, den Pflanzen, den Sternen …
    Mit einer Hand beschrieb er dann einen Bogen und zeigte auf das Sumpfland um uns.
    ›Es heißt, hier sei das irdische Paradies gewesen, wo der Allmächtige Adam aus diesem Lehm schuf. Durch dieses Schilfrohr habt Ihr dieselbe Erde, dasselbe Wasser und dieselbe Luft vernommen.‹
    |620| ›Ich bin gekommen, um von Euch in die Kunst der Kalligraphie eingeweiht zu werden‹, warf ich schüchtern ein; zu mehr Worten fehlte mir der Mut, da ich fürchtete, eine unbotmäßige Äußerung meinerseits könnte mir die Weigerung jenes Mannes einbringen, mich darin zu unterrichten.
    ›Auch die Schreibfeder des Kalligraphen wird aus diesem Rohr gemacht‹, erwiderte er bedächtig. ›Als erstes müßt Ihr das Schilfrohr begreifen lernen. Sein Klang hat die Fähigkeit, direkt ins Innerste der Dinge vorzudringen, ebenso wie der Kalligraph mit einigen wenigen Strichen ihr Wesen heraufbeschwören kann.‹
    Und als ahnte er in mir die Eile und die Auflehnung gegen diese Aufgabe, fuhr er fort:
    ›Die Musik trägt nichts in Euer Herz, was dort nicht schon vorhanden wäre. Sie erweckt allein Welten, deren Existenz man nicht einmal geahnt hat, den Widerhall eines früheren Lebens.‹
    Angesichts der Sorgen, die mich beschäftigten, war ich nicht gerade erpicht auf seine Sumpf-und-Röhricht-Philosophie, wollte ich doch so schnell wie möglich die Bedeutung der Linien auf dem Pergament entschlüsseln und nach Spanien zurückkehren. Aber ich mußte mich fügen und mir noch etliches Wissen aneignen, bevor es eines schönen Tages endlich soweit war, daß er sagte:
    ›Ich glaube, jetzt können wir mit dem Unterricht anfangen.‹
    Überschäumend vor Freude rannte ich los, das Pergament zu holen. Endlich würde ich die Sprache erlernen, die sich hinter dem Labyrinth verbarg! Doch Gabbeh blickte erst die Keile und dann mich an und schüttelte danach den Kopf. Ich biß mir auf die Lippen, versuchte meinen Zorn zu zügeln. Er schien meinen Gefühlen jedoch keine Beachtung zu schenken, denn er stand nun auf, holte aus dem Haus einen scharfen und schön verzierten Dolch und befahl mir dann:
    ›Laßt das liegen und kommt mit.‹
    Ich folgte ihm durch das Ried, bis wir in ein Gebiet mit sauberem und ruhigem Wasser kamen, wo sich die Strömung um |621| die Binsen und das Schilfrohr staute. Neben einer Gruppe von Schilfpflanzen blieben wir stehen. Der Kalligraph nahm sie genau in Augenschein, kam danach aber zu dem Schluß:
    ›Diese hier taugen für eine Bedachung, aber nicht für eine Schreibfeder. Dieses Jahr ist der Schilf nicht richtig in die Höhe geschossen.‹ Er hieß mich näher treten und zeigte mir den blühenden Rohrkolben: ›Daraus wird keine gute Feder.‹
    Wir gingen weiter. Zu meiner Verzweiflung verschmähte er auch die folgenden Schilfrohre, einen nach dem anderen, obwohl sie für mich alle gleich aussahen. Bis wir schließlich zu einer Stelle kamen, wo das Rohrdickicht direkt über dem Wasser anfing und von dort aus die Böschung hinaufwuchs. Gabbeh prüfte auch dieses Schilf. Anscheinend gefiel ihm, was er sah, denn er wählte einen geradegewachsenen, starken Stengel, schnitt ihn sauber ab und untersuchte dann mit der Daumenkuppe die Faserung und den herausquellenden milchigen Saft. Dies wiederholte er mehrere Male, sortierte am Schluß einige der Rohre wieder aus und band die restlichen mit Binsen zu einem Bündel zusammen, das er anschließend aufrecht ins Rohrdickicht zurückstellte.
    ›Gehen wir‹, sagte er.
    ›Ihr laßt sie hier?‹ fragte ich erstaunt.
    ›Sie müssen erst noch trocknen. Und zwar am selben Ort, wo sie gewachsen sind, unter derselben Sonne, in derselben Feuchtigkeit und derselben Luft, wenn nötig wochenlang, damit sie nicht plötzlich ihre Biegsamkeit verlieren und Risse bekommen.‹ Und als sähe er mir meine Zweifel und meinen Verdruß an, fügte er hinzu: ›Ihr müßt noch viel lernen, um ein guter Kalligraph zu werden.‹
    Ein paar Tage später gingen wir wieder hin, aber sie waren noch nicht nach seinem Geschmack. Und auch beim zweiten Mal nahm er sie nicht mit. Ich begann langsam zu verzweifeln. Nicht nur, daß ich mich vor Sehnsucht verzehrte, deine Mutter

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