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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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sind, vor allem der an der Spitze. Den Grund dafür seht Ihr jetzt.‹
    Er setzte die Feder unendlich sanft auf das Papier. Das Ergebnis war eine kleine, fein gezeichnete Raute in Form einer Diamantspitze.
    ›Dieser Punkt heißt
nuqta
und bildet die Grundlage jeder Eurer Kalligraphien. Wenn Eure
nuqta
wohlproportioniert ist, werden Eure Buchstaben es ebenfalls sein, da sie aus ihr hervorgehen. Das ist sehr wichtig, denn ist die Höhe der Buchstaben erst einmal bestimmt, muß man sie den ganzen Text hindurch beachten. Um sie zu variieren, bedarf es einer sehr bedachtsamen, fachkundigen Hand. Andernfalls werdet Ihr nie ein guter Kalligraph werden.‹
    Er wartete, bis ich meine Feder in die Tinte getaucht hatte, um mich an einer
nuqta
zu versuchen, bevor er fortfuhr.
    ›Wenn die Rohrspitze richtig geschnitten ist, reicht ein sanfter Druck, um eine gute
nuqta
zu erhalten. Sobald Ihr zu sehr auf das Papier drückt, bekommt Ihr einen Tintenklecks.‹
    Ich tat, wie mir geheißen, und heraus kam eine exakte, saubere Raute.
    ›Sehr gut‹, lobte er mich. ›Das ist nun das Maß, nach dem Ihr Euch bei der Strichdicke richten müßt. Jetzt zeichnet darüber noch sechs weitere
nuqtas
.‹
    Ich malte mit äußerster Sorgfalt, bis ich eine Linie aus sieben dieser kleinen Rauten hatte.
    ›Sie zeigen Euch jetzt die Höhe des Textes an. Nun folgt der erste Buchstabe, ein
alif
. Achtet darauf, daß er genauso hoch ausfällt wie die sieben
nuqtas
.‹
    Ich zeichnete ein ganz annehmbares
alif
, das wie ein senkrechter Strich aussieht und im Grunde nicht viel anders ist als das ›l‹ im lateinischen Alphabet.
    ›Aufstrich und Abstrich könnten noch besser sein, aber Ihr |625| führt Eure Hand schon recht gut. Jetzt malt einen Kreis mit einem Durchmesser wie dieses
alif
.‹
    Ich folgte seinen Anweisungen aufs Wort.
    ›Dieser Kreis dient Euch fortan als Anhaltspunkt für die Breite. Orientiert Euch daran, wenn Ihr nun den nächsten Buchstaben zeichnet, das
ba
.‹
    Er selbst machte es mir vor und zeichnete ein schwungvolles
ba
. Auf diese Weise fuhr er fort, bis er mir alle Maße gezeigt hatte. Danach sah er mich an und fragte:
    ›Versteht Ihr jetzt, warum der Zuschnitt des Rohrs so wichtig ist?‹
    Ich nickte eifrig. Vor mir sah ich das klare Beispiel, wie die Beschaffenheit eines Schilfrohrs, ja selbst die eines ganzen Sumpfes, die Kalligraphie beeinflussen konnte. Der Schnitt an der Spitze ergab die
nuqta,
und die
nuqta
ergab die Höhe und Breite der Buchstaben. Und mit diesen Buchstaben konnte man die Welt neu schreiben! Ein Lächeln erhellte mein Gesicht. Es war der Hochmut dessen, der glaubt, endlich alles verstanden zu haben. Aber Gabbeh kümmerte sich schon darum, mir diesen Glauben mit einem Federstrich wieder zu nehmen.
    ›Was man mit viel Fleiß und der nötigen Fingerfertigkeit erreicht, ist wichtig. Ebenso wie man es verstehen muß, die richtigen Maße und Proportionen zu wahren. Aber das ist nur der Tribut, den wir dem Diesseits, den faßbaren Dingen zu zollen haben. Es ist nur der Anfang. Reine Geometrie. Wir wollen jedoch Kalligraphen sein und keine kleinen Landvermesser.‹
    ›Und worauf kommt es dann an?‹ fragte ich, verwirrt über die scharfe Lektion, die er mir gerade erteilte.
    ›Auf Eure Seele. Ihre Reinheit wird sich in der Reinheit Eurer Schrift spiegeln. Dort, aus Eurem Herzen, muß Euer Stil entspringen, damit ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit Eure Schrift durchdringt, damit jeder, der sie liest, von dieser Schönheit angesteckt wird.‹
    ›Und so wird sie zur Kunst‹, sagte ich eifrig.
    ›Um Kunst zu sein, muß sie noch einen höheren Grad erreichen |626| , aber auch damit ist es noch nicht genug‹, wies Gabbeh mich zurecht. ›Der Kalligraph ist weitaus mehr als ein bloßer Verschönerer. Jeder Strich seiner Feder hat wie eine einzige Liebkosung zu sein. Wenn Ihr das Auge des Buchstabens
sad
zeichnet, so sollt Ihr dabei an das Auge Eurer Angebeteten denken. Und wenn Ihr die Kurve des Buchstabens
nun
malt, solltet Ihr dabei den Ausdruck ihrer Brauen vor Augen haben, wenn sie Euch gerade im Getümmel des Marktes entdeckt hat und überlegt, wie sie sich Euch nähern kann, damit es wie eine zufällige Begegnung erscheint. Es gibt einen gewissen Augenblick, in dem sie, in einer Mischung aus Koketterie und Herausforderung, das Glück Eures Zusammentreffens widerspiegeln. Genau diesen flüchtigen, göttlichen Augenblick habt Ihr Euch beim Schreiben dieses Buchstabens vorzustellen. Denn im

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