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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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verstehe ich nicht. Wie kann so ein Muster in einem Lied enthalten sein?‹
    ›Es geht, ohne jeden Zweifel. Habt Ihr noch nie gesehen, wie blinde kleine Mädchen ihre Teppiche weben? Sie weben nach dem Rhythmus einer Melodie, die ihnen eine alte Frau vorsingt, wobei die verschiedenen Klangfarben die Länge der bunten Wollfäden bestimmt, die sie in ihr Muster einarbeiten. Jede Familie, ja sogar jede Werkstatt, hat ihre eigenen Melodien, die nur von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben werden, so daß ihre Teppiche einzigartige Muster haben. Und den Kalligraphen geht es ebenso.‹
    ›Und was ist das Geheimnis dieser Formel, die als ETEMENANKI bezeichnet wird?‹
    ›Eins nach dem anderen. Zunächst müßt Ihr wissen, daß ihr |629| eine Art Schablone zugrunde liegt. Aus Zahlen oder Buchstaben.‹
    ›Denkt Ihr, der Kalligraph des Kalifen hat so etwas für dieses Labyrinth benutzt?‹
    ›Ja, das denke ich. Er hat sich ganz gewiß eines Rasters von 60 mal 60, das heißt 3600
nuqtas
bedient, das nahezu unendlich viele Kombinationen erlaubt. Aber dieses nuqta-Raster ist nur etwas Äußerliches. Damit das Labyrinth zu einem
letzten
Schlüssel
wird, muß es sich der wirklichen Schablone angleichen, die sich im Innersten eines jeden Menschen befindet und auf der alle Sprachen der Welt basieren, ja sogar die Schöpfung selbst. Diese Schablone ist die Sprache, die Allah verwendet hat, um der Welt seinen göttlichen Odem einzuhauchen.‹
    ›Und wie dringe ich zu dieser Ursprache, dieser Schablone vor?‹
    ›Es ist keine Sprache, wie wir sie kennen. Es ist eine Sprache, die
vor
allem liegt, die Sprache, die in jener fernen Zeit gesprochen wurde, bevor sich die Völker nicht mehr gegenseitig verstanden. Und so liegt auch unter diesem Labyrinth die ursprüngliche, die wahre Schrift. Ihr müßt die Linien dieses Pergaments in Euch aufnehmen, sie tief verinnerlichen, bis sie sich von der Thron-Sure lösen, um in Euch zu gären und zu reifen und Euch so den
letzten Schlüssel
zu offenbaren. Wenn Euch das gelingt, werdet Ihr in Eurem Inneren eine Reise zurückgelegt haben, die Euren Geist öffnen wird wie ein Schlüssel, der in das richtige Schloß gesteckt wird. Und schließlich wird es Euch zu jenen Teilen Eures Bewußtseins führen, die Ihr noch nie zuvor betreten habt, so wie Ihr auch in das Zentrum dieses Sumpfes vorgedrungen seid. Diese Reise in Euer Innerstes wird voller Gefahren sein, und möglicherweise gibt es keine Rückkehr, wenn Ihr Euch auf dem Weg zurück verirrt. Auf diese Reise solltet Ihr Euch nicht ohne einen kundigen Führer begeben.‹
    ›Und wer vermag mir dabei zu helfen?‹
    ›Diese Geheimnisse, das Mysterium Eures Bewußtseins, müßt Ihr anderswo erforschen. Im Haus des Traumes.‹
    |630| ›Allmächtiger!‹ rief ich verzweifelt. ›Ich muß also noch an einen anderen Ort reisen?‹
    ›Es wird der letzte sein.‹
    ›Und danach werde ich endlich in meine Heimat zurückkehren können?‹
    ›So ist es.‹
    ›Dieses Haus des Traumes … wo liegt es?‹ fragte ich. ›Diesseits oder jenseits der beiden Flüsse? Ich habe ein feierliches Gelöbnis abgelegt, sie nicht zu überqueren.‹
    ›Keine Sorge, es liegt diesseits der beiden Ströme, auf dem Weg zurück in Eure Heimat. Yunan wird Euch hinführen. Und jetzt entschuldigt mich. Ich für meinen Teil habe meine Pflicht erfüllt.‹
    Noch am selben Tag machte ich mich mit Yunan auf den Rückweg. Wir hatten gerade den Hauptkanal erreicht, da drehte er sich zu mir um und fragte:
    ›Wollt Ihr vielleicht sehen, was von ETEMENANKI noch übriggeblieben ist?‹
    Seine Frage verwunderte mich. So sehr, daß mir keine andere Erwiderung einfiel als:
    ›Müssen wir dafür einen Umweg machen?‹
    ›Kaum.‹
    Ich stimmte also zu, und so fuhren wir weiter flußaufwärts, bis wir einige Ruinen erblickten. Wir ruderten ans Ufer, versteckten die Barke zwischen hohen Binsen und schlenderten dann über die trostlose Ebene, die sich vor uns ausbreitete. Sie wirkte irgendwie beklemmend, der Boden war mit Salz und Schwefel bedeckt, und man sah auch Felsen, was für ein Sumpfgebiet ziemlich außergewöhnlich ist. Und wir entdeckten Ziegelöfen, Keramikscherben, Blei, einige halb vergrabene Götzenbilder, barbusige Frauenfiguren … Zweifellos die Überreste einer uralten Zivilisation.
    Das intensive goldene Licht schien in der staubigen Luft zu zittern. Die Ebene war wie von einer Wunde durchzogen, einer klaffenden dunkelvioletten Narbe, die einmal sehr viel tiefer

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